Vom Recht auf Natur zu den Rechten der Natur

Internationale Anerkennung der Natur als Rechtssubjekt für die Erhaltung der Biodiversität

von Almudena Abascal, Juristin und Lateinamerikareferentin bei FIAN Deutschland

Im Jahr 2008 war Ecuador das erste Land der Welt, das die Natur in seiner Verfassung als Rechtssubjekt anerkannte und damit eine politische und rechtliche Debatte anstieß, die seither weltweit geführt wird. Seitdem haben auch andere Länder bedeutende gesetzgeberische und rechtswissenschaftliche Fortschritte gemacht, die aufeinem ökozentrischen Ansatz beruhen, bei dem Mensch und Natur auf derselben Ebene stehen. Die internationale Anerkennung der Rechte der Natur kann ein wirksames Mittel sein, um die biologische Vielfalt zu erhalten und damit die Zukunft der Menschheit zu sichern.

Im Dezember 2022 trafen sich in Montreal (Kanada) die 196 Vertragsstaaten des Biodiversitätsabkommen (1993) bei der COP 15 und beschlossen den „Globalen Rahmen für Biodiversität“. Das Rahmenwerk wurdeoptimistisch begrüßt, insbesondere nach der Enttäuschung des Strategischen Plans zum Erhalt der biologischen Vielfalt 2011-2020, bei dem keines der 20 vereinbarten Ziele erreicht wurde.

Das Ziel ist klar und unstrittig: Den drastisch anhaltenden Verlust der biologischen Vielfalt zu stoppen. Der Internationalen Union zur Bewahrung der Natur (International Union for Conservation of the Nature) zufolge sind in den letzten zehn Jahren 160 Arten ausgestorben. Zusätzlich gaben Expert:innen der Vereinten Nationen 2019 bekannt, dass eine Million von schätzungsweise acht Millionen Arten vom Aussterben bedroht sind, von denen viele innerhalb weniger Jahrzehnte aussterben könnten. Die Hauptursachen für die beschleunigte Zerstörung der biologischen Vielfalt, wie etwa Abholzung, Klimawandel und Umweltverschmutzung, sind menschlichen Ursprungs und durch die intensive industrielle Landwirtschaft, die Ausbeutung von Land und natürlichen Ressourcen, ein verschärftes Konsumverhalten und die derzeitigen Ernährungssysteme geprägt. So sind heute 75% der Lebensräume an Landdurchmenschliche Eingriffe stark verändert, 66% der Meeresräume leiden unter verschiedenen schädlichen Einflüssen und über 85% der Feuchtgebiete sind in den letzten 300 Jahren verschwunden.i

Schutz der Natur durch Menschenrechte

Der Schutz der Natur kann nicht von der Achtung der Menschenrechte getrennt betrachtet werden. Die Schaffung der UN Sondermandate für Umwelt 2012 und für Klimaw andel und Menschenrechte 2021, die Anerkennung des Menschenrechts auf eine gesunde Umwelt 2022 sowie das Inkrafttreten des Escazú-Abkommens 2021, des ersten Umweltvertrags in Lateinamerika und der Karibikzum Schutz des Rechts auf eine gesunde Umwelt, sind ein klarer Beweis dafür.

Kurz nach der COP 15 haben drei UN Sonderberichterstatter in einer gemeinsamen Erklärung die Vertragsstaaten des Biodiversitätsabkommens aufgefordert, dafür zu sorgen, dass Maßnahmen zum Schutz der biologischen Vielfalt nicht auf Kosten der Menschenrechte gehen. Nach den Worten der Experten: „Eine gesunde biologische Vielfalt und gesunde Ökosysteme sind die Grundlage des Lebens und die Basis für die Wahrnehmung der Menschenrechte, einschließlich de r Rechte auf Leben, Gesundheit, Nahrung, Wasser, Kultur und eine gesunde Umwelt“.ii Besondere Aufmerksamkeit sollte

den kollektiven Rechten der Indigenen Völker und der Kleinbäuer:innen gewidmet werden. Indigenes Land macht etwa 20 % des Territoriums der Erde aus und beherbergt 80 % der verbleibenden biologischen Vielfalt des Planeten. Die Missachtung der territorialen Rechte Indigener Völker, wie sie in dem Übereinkommen über Indigene Völker der International Labour Organisation (ILOKonvention 196) anerkannt werden, führt zum Verlust von Lebensräumen.

Vom Recht auf Natur zu den Rechten der Natur

Einige Staaten haben sich von einem anthropozentrischen Konzept, wonach die Beziehung zwischen Mensch und Natur auf der Beherrschung und Kontrolle der Natur durch den Menschen beruht, zu einem Ökozentrismus bewegt, der den Menschen als Teil der Natur und nicht als über ihr stehend anerkennt. Im Jahr 2008 verankerte Ecuador als erstes Land der Welt die Rechte der Natur in seiner Verfassung (Art. 71). Damit ist der Zugang zur nationalen Gerichtsbarkeit gewährleistet, was Einzelpersonen, Gruppen und Gemeinschaften ermöglicht, Verletzungen der Natur in ihrem Namen anzuklagen. In Bolivien wurden das Gesetz über die Rechte der Mutter Erde (2010) und das Rahmengesetz über die Mutter Erde und die integrale Entwicklung für ein gutes Leben (2012) verabschiedet, mit denen die Natur formell als Rechtssubjekt anerkannt wird. Das kolumbianische Verfassungsgericht erkannte 2016 den Atrato-Fluss als rechtlich schützenswert an und folgte dabei einem ökozentrischen Ansatz, demzufolge die Erde nicht das Eigentum des Menschen ist, sondernim Gegensatz dazu der Mensch wie jede andere Spezies zur Erde gehört. Diese rechtliche Wandlung hat sich in Staaten vollzogen, deren Rechts – und Sozialsysteme die gegenseitige Beziehung zwischen Mensch, Tier und Natur anerkennen, was oftmals damit in Zusammenhang steht, dass in ihnen Indigene Völker leben. In den oben genannten Fällen in Lateinamerika, aber auch in Neuseeland und Indien sind die Rechte der Natur durch das Rechtswesen anerkannt worden. iii Leider wurden die Fortschritte in Ecuador und Bolivien durch Gesetzgebung und politische Entscheidungen konterkariert, die die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen fördern und damit im Widerspruch zu den proklamierten Rechten der Natur stehen.

In der Europäischen Union (EU) wurde der Übergang vom Recht auf Natur zu den Rechten der Natur noch nicht vollzogen, obwohl die EU eine der strengsten gesetzlichen Regelungen im Bereich des Umweltschutzes hat. Angesichts des besorgniserregenden Zustands der biologischen Vielfalt in Europa, wo sich nach Angaben des EU-Parlaments nur 5 % der Waldlebensräume in einem günstigen Erhaltungszustand befinden, ist es nicht klar, ob dieser anthropozentrische Rechtsrahmen der geeignetste ist. Die Grundkonzeption der Natur „als Eigentum, als Ware, die Dienstleistungen erbringt, was ihre Ausbeutung zu wirtschaftlichen Zwecken legitimiert“iv sollte zugunsten einer „Anerkennung des Eigenwerts der Natur überwunden werden, unabhängig von ihrer Nützlichkeit für den Menschen“v.

Die Debatte weitet sich aus

Diese rechtlichen und legislativen Entwicklungen im nationalen und regionalen Kontext haben die Debatte auf internationaler Ebene eröffnet. Aktuell werden Diskussionen über eine Allgemeine Erklärung der Rechte von Mutter Erde als Ergänzung zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und über die Schaffung eines Internationalen Gerichtshofs für Umweltgerechtigkeit geführt. Die politische Bühne, die weitgehend von der Zivilgesellschaft getragen wird, ist bereitet. Die Schwierigkeiten im technisch-juristischen Bereich sollten mit Bereitschaft und Aufgeschlossenheit überwunden werden können, indem man sich von westlichen Rechtstheorien löst und sich denen des globalen Südens annähert. Um die biologische Vielfalt wirksam zu schützen und damit auch das Überleben des Menschen in der Natur zu sichern, ist die Anerkennung der Rechte der Natur und damit der Natur als Rechtssubjekt erforderlich. Hierzu ist ein tiefgreifender Wandel unserer Wirtschaftsordnung, Entwicklungsmodelle, Bildungswesen, Konsummuster und Ernährungssysteme notwendig, insbesondere inden Ländern des globalen Nordens. Dabei sollten die Menschenrechteund

die Rechte der Natur Vorrang vor wirtschaftlichen und unternehmerischen Interessen haben. Wie der UN Sonderberichterstatter David R. Boyd feststellt, “die Rechte der Natur stehen im Widerspruch zu unbegrenztem Wirtschaftswachstum, Konsumismus, ungebremster Globalisierung oder dem Laissez- faire Kapitalismus”. vi

Almudena Abascal ist Juristin und Lateinamerikareferentin bei FIANDeutschland

Quellen:

i IPBES Bericht, 2020. Das globale Assessment der Biologischen Vielfalt und Ökosystem -Leistungen

ii  https://www.ohchr.org/en/press-releases/2022/12/post-2020-global-biodiversity-framework-urgent-need- protect-nature-and-human

iii http://www.legislation.govt.nz/act/public/2017/0007/latest/whole.html und https://www.nonhumanrights.org/content/uploads/WPPIL-126-14.pdf

iv Borràs Petinant, Susana (2020), “Los derechos de la naturaleza en Europa: Hacia nuevos planteamientos

transformadores de la protección ambiental”

v Boyd, David Richard (2020) “The rights of the Nature. A legal Revolution that could save the world” https://co.boell.org/sites/default/files/2021-04/Derechos%20de%20la%20naturaleza%20Web.pdf

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Naturschutz ist keine rückwärtsgewandte Romantik sondern angewandter Menschenschutz

Christine Ax, Netzwerk Rechte der Natur e.V.

Hintergrund dieses Beitrages ist die Ablehnung der Verordnung des Europäischen Parlamentes und des Rates zur Wiederherstellung der Natur (COM/2022/304) im EU-Umweltausschuss durch die EVP und ihre Verbündeten. Die Argumente, mit denen die EVP gegen die EU-Verordnung zur Wiederherstellung der Natur kämpft, ist ein verantwortungsloser Angriff auf die Lebensgrundlagen aller Europäerinnen. Denn die Verordnung ist eine reale Chance, die dramatische Naturzerstörung der letzten Jahrzehnte zu reparieren und die natürlichen Grundlagen unserer Existenz und Ernährung auf eine sichere Grundlage zu stellen. Naturschutz hat nichts mit rückwärtsgewandter Romantik zu tun. Mehr Naturschutz führt keineswegs zu Hungersnöten, sondern schützt uns alle davor, sichert Zukunft und ist Grundlage für ein gutes und gesundes Leben.“

Die Argumente, mit denen sich der EU-Abgeordnete Liese (CDU) im Deutschlandfunk am 27. Juni im Zusammenhang gegen die Richtlinie kämpft, sind abenteuerlich, unbegründet und ein Versuch, uns alle in die Irre zu führen. Liese brachte die geplanten Naturschutzmaßnahmen in Verbindung mit „rückwärtsgewandter Romantik“, widersprach nicht der Behauptung, dass die Verordnung weltweit Hungerkrisen verursachen würde und erweckte den Eindruck, es gäbe bereits genug oder vielleicht sogar bereits zu viel Naturschutz. Dabei wurde auch offensichtlich, dass es ihm einzig und allein um die Interessen des Teils der Landwirtschaft geht, der Landwirtschaft industriell betreibt.

Richtig ist aber: Hintergrund dieser Verordnung ist ein von Wissenschaft und Politik nahezu einvernehmlich festgestelltes Versagen der Umwelt- und Naturschutzpolitik der letzten Jahrzehnte. Die Kommission begründet ihren Vorschlag mit der Feststellung, dass trotz der Bemühungen der EU und internationaler Gremien der Biodiversitätsverlust und die Schädigung der Ökosysteme in besorgniserregendem Tempo immer weiter fortschreiten. Und die Kommission stellt weiterhin fest, dass dieses Naturschutzversagen Mensch, Wirtschaft und Klima gefährdet: Denn „gesunde Ökosysteme bieten Nahrungsmittel und Ernährungssicherheit, sauberes Wasser sowie CO2-Senken und schützen vor mit dem Klimawandel einhergehenden Naturkatastrophen. Sie sind für unser langfristiges Überleben, unser Wohlergehen, unseren Wohlstand und unsere Sicherheit von entscheidender Bedeutung, da sie die Grundlage für die Widerstandsfähigkeit Europas bilden.“ 

Um die Klima- und Biodiversitätsziele der Union für 2030 und 2050 zu erreichen und die Widerstandsfähigkeit der Lebensmittelsysteme zu gewährleisten, hält die EU-Kommission entschlossenere Maßnahmen erforderlich. Um die bereits zerstörte Natur wiederherzustellen, schlägt sie vor, dass bis 2030 knapp ein Drittel aller europäischen Ökosysteme, die in keinem guten Zustand sind, wieder in einen guten Zustand versetzt werden müssen. Bis 2040 sollen mindestens 60 % und bis 2050 sollen mindestens 90 % aller Flächen, die in keinem guten Zustand sind, so wiederhergestellt werden, dass sie in einem guten Zustand sind und bleiben. Unter gutem Zustand versteht die Kommission einen Zustand, in dem ein Ökosystem das Maß an ökologischer Integrität, Stabilität und Widerstandsfähigkeit aufweist, das für die Existenz und das Überleben als Ökosystem erforderlich ist.

Das Netzwerk Rechte der Natur unterstützt ausdrücklich die Ziele dieser Richtlinie und würde es sehr begrüßen, wenn auch der nächste logische Schritt gegangen würde, indem der Natur ein Recht auf Wiederherstellung, Leben und Entwicklung zugestanden wird. Ein Rechtsanspruch auf Leben für die Natur kann verhindern, dass bei der Abwägung von Nutzungsinteressen und Erfordernissen des Naturschutzes, der Schutz der Natur  regelmäßig unterliegt. Dass diese Forderung keine Utopie ist, dafür gibt es immer mehr Belege. So hat die Festschreibung der Rechte der Natur in der Verfassung Ecuadors bewirkt, dass wichtige Teile des Ecuadorianischen Regenwaldes vor ihrer Zerstörung bewahrt werden konnten. Sowohl das Urteil zu Los Cedros als auch das Urteil zum Intag-Regenwald sind dafür gute Beispiele. In Spanien wurde dem Mar Menor jüngst ein Recht auf Leben zugestanden. Weltweit wächst die Zahl erfolgreicher Initiativen, die ihre Hoffnungen auf ein gute Zukunft mit dem Recht auf Leben der Natur verknüpfen.

Dass wir uns heute in einer für die menschliche Existenz bedrohliche und sich gegenseitig verstärkende „Doppelkrise“ befinden (Klimawandel und Biodiversitätsverlust), ist Folge eines Denkens und einer Gesetzgebung, für die die Natur ein Objekt ist, das bis zur Zerstörung benutzt, degradiert und ausgebeutet werden darf. Dies hat dazu geführt, dass der Artenschwund nicht gestoppt wurde, sondern immer schneller voranschreitet, die Wasserversorgung in Gefahr ist, Böden erodieren und austrocknen, Fließgewässer verschmutzt werden und in Folge des Klimawandels versiegen. Selbst die Weltmeere sind inzwischen als Ökosysteme gefährdet.

Naturschutz oder die Forderung nach den Rechten der Natur sind vor diesem Hintergrund das Gegenteil von rückwärtsgewandter Romantik. Sie sind zukunftszugewandter Menschenschutz. Nicht die Natur braucht uns. Wir brauchen die Natur. Wir sind Natur. Und ohne Natur sind wir nicht.

Nicht die Forderung nach dem Schutz der Natur und ihrem Recht auf Leben ist utopisch. Utopisch ist es, anzunehmen, dass wir auch nur einen Tag so weiter machen können, wie bisher. Wer die Natur und ihr Recht auf Wiederherstellung und Leben schützt, schützt den Menschen und sichert seine Zukunft und damit auch die der Landwirtschaft. 

Mit der Denunzierung des Naturschutzes als etwas romantisch Rückwärtsgewandtes betreibt Herr Liese ein gefährliches Spiel und er stärkt damit die Kräfte in unserer Gesellschaft, die sich gegen den notwendigen Wandel und die Transformation unserer Wirtschaft und Gesellschaft stellen.


Helmut Scheel

Kreislaufwirtschaft bedingt Rechte der Natur

von Helmut Scheel

Kreislaufwirtschaft bedingt Rechte der Natur

Das Thema Kreislaufwirtschaft nimmt in den letzten Jahren an Bedeutung zu. Recycling und Reparatur sind nur weitere Schlagworte in diesem Themenfeld. Historisch ist das alles nichts Neues. Bereits im alten Ägypten wurden behauene Steine von verlassenen Tempeln oder Gebäuden in neu zu errichtende wieder integriert. Der Grund: Steine neu aus Steinbrüchen zu brechen, zu transportieren und zuzuhauen war viel aufwendiger als bereits Gebrauchsfertige wiederzuverwenden. Dieses Verfahren und ähnliches zog und zieht sich dem Prinzip nach durch alle Kulturen bis zu jenem Zeitpunkt als die Neuanschaffung billiger wurde als die Aufbereitung von Bestehendem und Existierendem. In meiner Jugend war es noch üblich, dass meine Mutter Strümpfe, Hosen, Mäntel usw. stopfte und flickte, weil man sich eine Neuanschaffung nicht leisten konnte.

Die Reparatur eines Werkzeuges oder Elektrogerätes war Standard.

Jedes Fachgeschäft nahm Produkte, welche man bei ihnen gekauft hatte oder welche man bei ihnen hätte kaufen können, wie selbstverständlich für Reparaturaufträge an. Im Laufe der 70er und 80er Jahre änderte sich dies, weil die Produktion von Gütern, bedingt durch verschiedene Umstände, billiger wurde wie die Reparatur oder Umarbeitung. Einige dieser Gründe waren steigende Löhne. Diese wirkten sich gleich doppelt negativ auf Reparaturen aus. Zum einen stiegen die Kosten für die Wiederherstellung und zum zweiten konnten sich die Menschen mehr leisten.

Neues gewann an gesellschaftlicher Achtung.

Neu galt als besser, wie etwas Repariertes. Ein zweites war die zunehmende Berufstätigkeit der Frauen. Dadurch stiegen die Familieneinkommen und man konnte sich noch mehr leisten. Drittens wurden durch die Automatisierung und die Verlagerung von Arbeit in Billiglohnländer die Produkte im Verhältnis zum Einkommen immer billiger. Ein weiterer Schub zur Konsumorientierung und daraus folgernd der Wegwerfgesellschaft. Die Produktzyklen wurden immer kürzer, damit man mehr verkaufen konnte. Immer das Neueste zu besitzen und zu präsentieren, zeugte von dem persönlichen gesellschaftlichen Status. Der American Way of Life – vom Tellerwäscher zum Millionär – wurde auch in Deutschland zu einem Lebensmotto.

Wirtschaftswachstum in BIP wurde zum Staatsziel Nummer eins

Man wollte bei den Gewinnern der Gesellschaft sein und nicht bei den Verlierern. Ein vierter und nicht zu vernachlässigender Aspekt war die Zunahme von Krediten. Damit wurden viele Anschaffungen möglich, für den sogenannten kleinen Mann, welche er sich sonst nur mit Ansparen nicht geleistet hätte. Getrieben von einem gewissen gesellschaftlichen Druck, dem Dazugehören, schaffte man sich immer schneller und häufiger ein neues Auto, einen Fernseher, neue Waschmaschinen und andere Haushaltsgeräte an. Die Werbung in den unterschiedlichen Medien befeuerte diese Entwicklung und kann als Punkt 5 angesehen werden. Als Sechstes gilt unser politisches System und das Gesetz aus dem Jahre 1967, welches sich „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“. Darin wird der Zwang des ständigen Wirtschaftswachstums staatlich festgeschrieben. Doch nicht nur das allein, sondern Wirtschaftswachstum wird im Prinzip zum Staatsziel Nummer eins erhoben.

Das BIP belohnt die Zerstörung

Als Gradmesser des Wirtschaftswachstums gilt das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Dieses beinhaltet alle in Deutschland produzierten Güter und erbrachten Dienstleistungen, welche mit Geld bezahlt werden. Die Geldmenge, welche aufgrund dieser erbrachten Leistungen definiert die Höhe des BIP. Der Begriff und die Bedeutung des Bruttoinlandsprodukts gehen auf John Maynard Keynes und das Jahr 1940 zurück. Es sollte die Volkswirtschaften vergleichbar machen und damit die Staaten in einen wirtschaftlichen Wettbewerb führen. Was bedeutet dies nun für die Wirkung auf unser Thema? Ein System, bei welchem nur der Geldfluss zählt, missachtet die Bedeutung von non-monetären Leistungen. Der Wert der Ehrenämter wird eliminiert, obwohl diese eine hohe gesellschaftliche Relevanz besitzen und ohne die unsere Gesellschaft nicht so gut funktionieren würde.

Das BIP ignoriert nicht-monetären Tätigkeiten die für unseren Wohlstand so wichtig sind

Erziehungsarbeit der Eltern, Pflegearbeit an Angehörigen, Nachbarschaftshilfe und vieles andere fließen nicht in das BIP ein. Daraus ergibt sich ein Problem für unsere Gesellschaft: Die immer größer werdenden Probleme, Menschen für derartige Tätigkeiten zu gewinnen. Immer mehr Vereine werden aufgelöst, weil sich niemand mehr ehrenamtlich engagieren will, weil die gesellschaftliche Achtung dieses Engagements sinkt, weil Achtung immer mehr mit Verdienst in Bezug gebracht wird. Das System des BIP wird sogar noch pervertiert. Unfälle, Krankheit und Katastrophen fließen positiv in das Bruttoinlandsprodukt ein, weil dadurch wieder Geld in Fluss kommt, und dieses wird ja im BIP gemessen. Die Katastrophe im Ahrtal als Beispiel fließt mit einem Volumen von über 30 Mrd. Euro in den nächsten Jahren ein, weil das Zerstörte wieder aufgebaut wird. Ist Zerstörung wirklich als positiv zu werten? Diese Frage dürfte uns alle wohl nur zu einer Antwort führen: Nein.

Was wäre aber, wenn unser gesamtes Wirtschaftssystem von Zerstörung lebt oder zumindest hauptsächlich von ihr?

Betrachten wir diese Hypothese. Nachdem immer neue Produkte in immer schnelleren Zyklen produziert werden, braucht es immer mehr Ressourcen, damit diese produziert werden können. In der Landwirtschaft werden die Böden immer mehr ausgelaugt, weil die Sorten immer mehr an Nährstoffen benötigen, um den gewünschten Ertrag zu erbringen. Wir Menschen haben dafür eine Lösung gefunden, die war früher normale organische Düngung und heute ist es Kunstdünger, welcher mit viel Energieaufwand hergestellt wird. Die Böden werden mehr und mehr ausgelaugt und der Bedarf an Kunstdünger steigt. Ein Teufelskreis der Bodenzerstörung. Auf einem Hektar dieserart bewirtschafteter Fläche gehen jährlich ca. 20 Tonnen Ackerboden verloren. Das bedeutet konkret Zerstörung von wertvollem Boden, um daraus Profit zu erzeugen und das BIP zu steigern.

Die Erzeugung oder Produktion von Nahrungsmittel auf Böden ist das eine, aber es wird auch z.B. Baumwolle angebaut. Die Textilindustrie braucht aber immer mehr von diesem natürlichen Produkt. Gab es früher zwei Kollektionen einer Marke, sprich Sommer und Winter, wurden irgendwann die Frühjahrs- und Herbstkollektionen mit eingeführt und heute wechseln diese Kollektionen im Monats- oder Zweimonatsrhythmus. Wurde früher Kleidung so lange getragen, bis sie irreparabel waren, so werden manche Kleidungsstücke, wie das Ein-Euro-Shirt, nur noch einmal getragen und dann weggeworfen. Der Ressourcenverbrauch ist jedoch unabhängig von der Häufigkeit des Tragens, sondern hängt stark von der Produktionsmenge und der Art der Herstellung ab. Auch in anderen Bereichen haben sich die Zyklen von neuen oder überarbeiteten Produkten deutlich erhöht.

Dies alles ist der Steigerung des BIP mit geschuldet und der darauf aufbauenden Sichtweise von Wohlstand.

Je mehr aber produziert wird, umso mehr wird aber auch zerstört. Alle unsere Ressourcen sind letztlich Rohstoffe aus der Natur. Jedes Erz, jedes Mineral, alle fossile Energieträger sind auf natürliche Weise entstanden. Jede Förderung und Entnahme ist eine Störung und Zerstörung dieser natürlichen Struktur. Die Verlagerung von Stoffen und deren Umwandlung in andere Stoffe und Produkte führt zu einem asymmetrischen Verhältnis gegenüber dem natürlichen Zustand. Dieses ist systemimmanent. Daraus ergibt sich die Logik, dass wir die Zerstörung der Natur brauchen, um unser Wirtschaftssystem am Laufen zu halten. Wir opfern die Natur und verbrauchen sie, damit wir einem Glauben hinterherlaufen, welcher sich als falsch erwiesen hat.

Warum hat sich dieses Wirtschaftssystem als falsch erwiesen?

Warum hat sich dieses Wirtschaftssystem als falsch erwiesen? Wir sehen seit 50 Jahren die Entwicklung vorher, wie wir unseren Planeten und damit unsere Lebensgrundlage zerstören. In diesem Zeitraum hat sich alles noch mehr verschlimmert, obwohl eine gegenläufige Erkenntnis vorhanden ist. Erkenntnis allein bringt also nichts. Der Mensch und sein Gehirn sind auf Faulheit programmiert.

Appelle reichen nicht

Unser Gehirn verbraucht im Ruhezustand bereits ca. 20 % bis 25 % unserer Energie und das, obwohl es vom Gewicht nur wenige Prozent unsere Körpermaße ausmacht. Am wenigsten Energie benötigt es, wenn es Routinen oder gewohntes verarbeitet. Jede Veränderung erhöht den Energiebedarf des Gehirns. Da es sich aber für das Energiesparen angelegt ist, versucht es jede Veränderung zu vermeiden und motiviert uns als Person Veränderungen zu meiden. Es gibt eine Ausnahme: Wenn die Veränderung dauerhaft einen noch geringeren Energiebedarf verspricht oder das Belohnungssystem aktiviert wird. Da das bisherige Wirtschaftssystem uns immer bequemer werden ließ, ist an dieser Stelle gesellschaftlich ein Umdenken auf Basis von Erkenntnis fast unmöglich. Das ist aus meiner Sicht der Grund, warum all die Appelle nicht fruchten.

Gibt es noch eine andere Möglichkeit?

Erst wenn jeder selbst die negativen, und das meint persönlich negative, Auswirkungen spürt und damit sein Leben unbequemer wird, wird er oder sie konkret beginnen über Veränderungen nachzudenken. Jetzt stellt sich die Frage, ob es in einem freiheitlichen, demokratischen System wie dem unseren noch eine andere Möglichkeit gäbe.

Die Antwort ist ein klares Ja.

So wie der Staat 1967 ein Gesetz erlassen hat, in welchem wirtschaftliches Wachstum als Staatsziel definiert ist, so kann der Staat Gesetze erlassen, welche die Lebensgrundlagen der Menschen schützt. Die Ausformulierung von vielen einzelnen Gesetzen würden von einer Vielzahl der Menschen als Verbotskultur bezeichnet werden. Wenn das Fällen von Bäumen verboten würde, der Bau von Straßen, der Neubau von Häusern auf der grünen Wiese, Verbot von Kunstdüngern und vieles andere mehr. Dies würde zwar alles dem Schutz der Natur und damit unserer Lebensgrundlagen dienen, würde aber unserem freiheitlichen Demokratieverständnis widersprechen.

Die Natur mit Rechten ausstatten

Wir müssen unsere Lebensgrundlage, sprich die Natur, mit gleichen Rechten ausstatten, wie wir sie den Firmen zugestehen, die diese Grundlagen zerstören. Derzeit gelten Firmen als juristische Person, nicht jedoch die Natur und die Tiere. Diese Benachteiligung hat massive Auswirkungen. Firmen und Personen können meist erst nach negativen Eingriffen in die Natur zur Verantwortung gezogen werden. Sprich erst, nachdem etwas zerstört wurde, kann seitens von Verbänden gegen die Zerstörung etwas unternommen werden. Mittlerweile hat sich an der Stelle zwar schon manches verbessert, da Verbände bereits bei manchen Planungen gehört werden müssen und Klagerecht haben, jedoch trotzdem dem Ganzen immer hinterherlaufen. Würde die Natur einen Status vergleichbar einer juristischen Person wie einer Firma erhalten, könnte sie, vertreten durch Verbände oder gar Privatpersonen, selbst klagen.

Hinzu käme ein Recht auf Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes.

Dieses Recht hätte die größten Auswirkungen auf unser Wirtschaftssystem und würde dem Natur- und Klimaschutz am meisten dienen. Es würde das derzeitige Wirtschaftssystem vom Kopf auf die Füße stellen. Jeder Eingriff in die Natur könnte als Verletzung der Natur angeklagt werden. Die Natur könnte die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes einklagen. Damit müsste bei jedem Eingriff in die Natur der Rückbau und die Wiederherstellung des vormaligen Zustandes eingepreist werden.

Daraus ergibt sich ein System, bei welchem die Zerstörung der Natur von Beginn an in die Bepreisung des Produktes einfließen. Bei der Gewinnung der Kohle müsste der Rückbau einer Mine und die Herstellung des vorherigen Zustandes mit einem Preis versehen werden. Dieser Preis ergibt sich durch die Kosten, welche dafür notwendig sind, und zwar zu dem Zeitpunkt, an dem das Produkt aus der Erde gewonnen wird. Dieses Geld würde auf ein Treuhandkonto der Natur einbezahlt werden. Dafür würde eine Trust Nature Bank gegründet werden, welche dieses Geld verwaltet und an jene entsprechend einem Wiederherstellungsindex ausbezahlt.

Das Ganze hätte einen weiteren Vorteil und zwar auf die negative Wirkung unseres Finanzsystems.

Durch die direkte Einzahlung auf das Treuhandkonto würde dem Finanzsystem Geld entzogen, welchem dem Konsum fehlen würde. Weniger Konsum bedeutet weniger Belastung für die Natur. Die gesamten Kosten wären teilweise so enorm und würden eine Ausbeutung von so mancher Lagerstätte als unrentabel erscheinen lassen. Die Produktion neuer Produkte würde sich systembedingt deutlich verteuern und die Reparatur und das Recycling hätten auf einmal wieder einen wirtschaftlichen Vorteil. 

Sprich: Wenn der Natur ein Recht auf Unversehrtheit wie dem Menschen zustünde, dann könnte sie ein Recht auf Genesung einfordern. Wenn ein Mensch durch einen anderen verletzt wird, muss der Verletzende dem Verletzten den ihm entstandenen Schaden ersetzen und dazu gehören die Kosten für die Wiederherstellung der Gesundheit. Wenn einer Firma ein Schaden zugefügt wird, kann die Firma als juristische Person den Schädigenden ebenfalls zum Ausgleich des Schadens und auf Wiedergutmachung verklagen. Genau dies würde die Einführung eines personalen Rechtsstatus der Natur in unser Grundgesetz bedeuten. Dies würde eine massive Förderung der Kreislaufwirtschaft hervorrufen. Wir kämen auch wirtschaftlich in eine neue bzw. alte Spur, welche einen Bewusstseinswandel in unser aller Köpfe hervorrufen würde. Es wäre ein juristisches Eingeständnis, dass der Mensch Teil der Natur ist und wir die Natur als Teil unseres Lebens voll und ganz akzeptieren.

Helmut Scheel 07.05.2023

Buchempfehlung: Die Befreiung der Natur – Zum Verhältnis von Natur und Freiheit bei Herbert Marcuse

Man kann aus vielen Gründen zu dem Ergebnis kommen, dass wir unsere Beziehung zur Natur neu denken müssen. Die 117 Seite starke Veröffentlichung “Die Befreiung der Natur – Zum Verhältnis von Natur und Freiheit bei Herbert Marcuse“ liefert dafür spannende Denkanstöße. Sein Autor, Ulrich Rutschig, Chemiker und Philosophie-Professor im Ruhestand (Universität Oldenburg) ist ein ausgewiesener Kenner der Kritischen Theorie.

Anfang der 70er Jahre schrieb Marcuse den Aufsatz „Natur und Revolution“. Es ist ein Plädoyer für die „Befreiung der Natur“ durch die Arbeiterklasse. Marcuse war davon überzeugt, dass die Befreiung des Menschen von den Zumutungen des Kapitalismus nur Hand in Hand mit der Befreiung der Natur einhergehen könne. Denn es liege in der vernünftigen Natur des Menschen, die Natur vor sich selbst zu schützen.

Dass Marcuse sich mit dieser Frage befasste, ist keineswegs selbstverständlich. Schließlich war in den 70er Jahren die Notwendigkeit des Naturschutzes nur bei wenigen „Linken“ ein Thema. Orthodoxe Marxisten hielten viel zu lange die Zerstörung der Natur für eine Art historischen “Nebenwiderspruch“, der sich auflöst, wenn der Hauptwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit Geschichte sein würde. Dieser Ansicht ist Marcuse explizit nicht. [1]

Interessant und aktuell an dieser Veröffentlichung ist, dass Rutschig Marcuses Kritik an Kants Naturverhältnis ausführlich darstellt. Denn viele Verfassungsrechtler berufen sich noch heute auf Kant, um die Vormachtstellung des Menschen über die Natur zu legitimieren und die Forderung nach den Rechten der Natur abzuwehren.

Was wollte Kant?

Für Kant ist Natur ein Objekt und steht daher unbegrenzt und kostenfrei als Mittel für die menschliche Zwecke (Wirtschaft, Selbstverwirklichung) zu Verfügung. Diese Freiheit, die Kant dem Menschen zuschreibt, wird durch die Moralität begrenzt, die dem Menschen eigen ist. Womit die menschliche Fähigkeit gemeint ist, sich selbst Gesetze zu geben und dem moralischen Imperativ zu gehorchen.

Dass nur der vernunftbegabte Mensch Würde besitzt, war bis ins 19. Jahrhundert so selbstverständlich, dass nicht nur Tiere, Pflanzen und die unbelebte Natur als Objekt behandelt werden durften, sondern auch alle Menschen, denen man ihr Menschsein absprach.  Indigenen Völkern, die die falsche (nicht europäische) Nasen- und Schädelform hatten, sprach man lange ihr vollwertiges Menschsein ab. Woraus sich auch ergab, dass sie keine der weißen Rasse vergleichbare Vernunft besitzen konnten, dass andere für sie entscheiden mussten und dass man sie als würdelose Objekt behandelt durfte: In Zoos zeigen, einsperren, sterilisieren, umerziehen, enteignen, entrechten etc.

Unter ihnen auch Japans Ureinwohner, die bis heute darum kämpfen, dass die Gebeine ihrer Vorfahren nicht mehr in Museen aufbewahrt werden, sondern an sie zurückgegeben werden, damit sie an den heiligen Stätten ihrer Vorfahren beerdigt werden können.[2][3]

Marcuse setzt mit seiner Kritik an diesem kantschen Würdebegriff an. Kant geht davon aus, dass Natur und Freiheit einander ausschließen. Da die Natur keinen freien Wille habe, könne sie kein Subjekt sein.

Bedeutet dies auch, dass die Natur keine Würde hat?

Kant verknüpft seinen Würdebegriff mit den Begriffen „Wert an sich“ und Preis[4]. Was einen Preis hat, das kann ersetzt werden, hat keinen Selbstzweck und ist kein Eigenwert. Umgekehrt formuliert könnte man auch sagen: Nur was nicht austauschbar ist, besitzt eine Würde.

Rutschig arbeitet in seinem Buch detailliert heraus, wie Herbert Marcuse Kants Annahmen und Schlussfolgerungen kritisiert und seine Gegenthese, dass die Natur und alle Lebewesen einen “Zweck an sich selbst” “sind, begründet.  

Marcuse anerkannte, dass Moralität in der Autonomie der Vernunft begründet ist und dass Moralität vernünftige Subjekte erfordert. Aber der Mensch – so Marcuse – ist kein reines Vernunftwesen, er ist auch ein Sinnenwesen, ein „Animal (Tier) rationale“ – das auf den Stoffwechsel mit der Natur angewiesen ist. Er ist sich seines Selbst bewusst gewordene Natur. Folglich gebühre nicht nur seinem „Vernunftwesen-sein“  sondern auch seinem „Naturwesen-sein“  Achtung. Zumal er nicht unabhängig von anderen Lebewesen und Arten leben kann, sondern diese seine Voraussetzung waren und sind, seine conditio sine qua non.

Marcuse hält es für moralisch geboten, dass die vernünftige Natur des Menschen die Natur als „Zweck an sich selbst” würdigt, ohne die der Mensch nicht sein kann. Denn die Natur ist seine Voraussetzung, der hinreichende Grund für seine Existenz. Sie ist nicht austauschbar und hat keine materielles äquivalent. Der Mensch hat die Freiheit, dies zu ignorieren. Doch vernünftig ist das nicht.  

Marcuse schrieb diesen Aufsatz Anfang der 70er Jahre, und er konnte folglich nicht wissen, was wir heute wissen.

Seine romantische Vorstellung vom revolutionären Subjekt Arbeiterklasse, das den Kapitalismus abschafft und die Natur befreit, wurde bisher von der Geschichte bisher nicht begründet. Und auch seine Hoffnung, dass es der Mensch die Natur befreit, ist bis heute nur ein frommer Wunsch geblieben.

Die Geschwindigkeit und die Eingriffstiefe mit, der der vernunftbegabte Mensch seit den 70er Jahren die Natur zerstört, lässt eine Befreiung der Natur kommt, wenn diese Übung doch noch eines Tages gelingt, für viele Tiere und Pflanzen zu spät. [5]

Wahrscheinlicher erscheint es inzwischen, dass sich die Natur von der Menschheit (ganz oder teilweise) befreit – es sei denn, der Mensch kommt ihm mit seinen Vernichtungswaffen zuvor, oder ein Virus erledigt das Geschäft. Marcuse hat wohl die realen Machtverhältnisse zwischen Menschen und Natur ebenso falsch eingeschätzt, wie die Machtverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit. 

Das ändert allerdings nichts daran, dass es sich lohnt, sich mit Marcuses Kritik an Kant auseinander zu setzen. Denn nur wenige Philosophen haben dies aus dieser Perspektive getan.


[1] Zumal die Hoffnung auf die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt enttäuscht wurde. Ist doch die „Arbeiterklasse“ sowohl in den “altindustriellen Ländern” als in den jungen Industrieländern in der internationalen Konsumentenklasse aufgegangen, die ihr Recht auf einen westlichen Lebensstil und die damit verbundene Ausbeutung der Natur ebenso vernunftfrei wie hartnäckig verteidigt.

[2] Was unvoreingenommene Beobachter heute vielleicht als einen Hinweis darauf deuten könnten, dass es mit der Vernunft diese weißen Rasse und derer, die diese verherrlichen nicht sehr weit her sein kann, oder dass es sich um eine ausgesprochen unmenschliche Vernunft handelt, die ihren eigenen Ansprüchen an Menschlichkeit und Vernunft nicht genügt. Denn Kant war kein Unmensch. Für Kant war Vernunft untrennbar mit dem moralischen Imperativ verbunden. Streng genommen könnte man aus dieser logischen Verknüpfung darauf schließen, dass alle Lebewesen, die den moralischen Imperativ nicht verstanden haben und nicht danach leben, keine Menschen sind. Aber was sind sie dann?

[3]Uwe Makino: „Der Schädelforscher errechnet einen Schädelindex aus der Relation von Länge und Breite, man schließt von der Schädelkapazität auf die Hirnentwicklung und damit auf die Kulturfähigkeit und später auf die Position im Evolutionsprozess. Auch der Gesichtswinkel wurde vermessen und ausgedeutet. Grundsätzlich sind Rassenbegriffe, die von permanenten Qualitäten ihrer Träger ausgehen, mehr als rein somatische Beschreibungen, wie wir eben bei Linné gesehen haben: Explizit fließen kulturelle, moralische und ästhetische Wertungen mit ein. Beginnend mit dem Aufklärer Voltaire (1694-1778), der den „Neger“ nicht als Ebenbild Gottes akzeptieren konnte, über die US-amerikanischen Verfechter der Sklaverei als gott- und naturgewollt bis hin zu den Rassisten unserer Tage kann man die Linie ziehen, die da behauptet: „Neger“ haben ein kleines Hirn, ihr Gesichtswinkel ist dem Affen näher als dem Idealbild des antiken Griechen, sie sind zu höherer Kulturleistung nicht fähig und eben „Wilde“, d.h. auch moralisch nicht auf der Höhe einer „Herrenrasse“. Quelle: Uwe Makino, Wem gehören die Ainu-Gebeine? Wozu wurden Schädel- und Gebeinsammlungen angelegt? Ein Blick in die Forschungs- und Ideologiegeschichte; In: OAG Notizen, Tokyo Juni 2018, S. 10 – 37.

[4] Rutschig: „In der dritten Antinomie erläutert Kant den Widerspruch von Kausalität nach Gesetzen der Natur und Kausalität aus Freiheit. Nach Kant hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden. Was hingegen über allen Preis erhaben ist, und mithin kein Äquivalent haben kann, das hat Würde.“

[5] Seit 1970 verschwanden rund 60 Prozent aller Säugetiere, Vögel, Fische und Reptilien von der Erde. Quelle: WWF, „Living Planet Report“ WWF.

Buchempfehlung: Die Befreiung der Natur, Zum Verhältnis von Natur und Freiheit bei Herbert Marcuse, Ulrich Ruschig, ISBN  9783 89438 7419

Die Rechte der Natur

von Karina Czupor (Nabu Niedersachsen)

Am 22. April letzten Jahres, dem Tag der Mutter Erde, wurde von der Initiative ,,Rechte der Natur” in einer Pressekonferenz vorgeschlagen, der Natur eigene Rechte im Deutschen Grundgesetz einzuräumen. Die weltweite Bewegung für die Rechte der Natur strebt an, Eigenrechte der Natur in den jeweiligen Rechtssystemen zu verankern. In den westlichen Kulturen hat sich früh eine Entfremdung von der Natur herausgebildet. In der bis heute vorherrschenden dualistischen Sicht auf die Welt gibt es Subjekte wie uns Menschen, die Rechte besitzen und Objekte wie die Natur, die rechtlos gestellt sind.

Die uns umgebende Welt wird dabei als Ressource gesehen, die dem Menschen zusteht und ausgebeutet werden kann. Untergang ganzer Ökosysteme, Artensterben und Erderhitzung sind die Folgen.

Die Existenz des Menschen hängt wesentlich mit der Existenz der Natur zusammen.

Naturschutzverbände sind in ihrer Arbeit täglich mit den Folgen dieser Sichtweise konfrontiert . Zwar gelingt es durch großes Engagement Schutzzonen einzurichten, Ausgleichsmaßnahmen zu erreichen oder Wiederherstellung zu erwirken, aber die Aktivitäten reichen nicht aus, um Artensterben und Erderhitzung zu verhindern.

Dieses selbstzerstörerische Verhältnis zur Natur ist dem Menschsein jedoch nicht zwangsläufig innewohnend. Viele indigene Völker erkennen, dass die Existenz des Menschen untrennbar mit der Existenz der Natur verbunden ist. Der Mensch wird hier als Teil der Natur gesehen und seine Mitwelt mit Dank und Respekt behandelt.

Wissenschaftliche Erkenntnisse bestätigen die Verflochtenheit der Welt und allen Lebens.

Von der Symbiose zweier winziger Lebewesen wie einer Alge und einem Pilz bis hin zum Kreislauf des Kohlenstoffs durch Boden, Gesteine, Ozeane, Pflanzen, Tiere und Atmosphäre ist alles miteinander verbunden. Unser Rechtssystem entspricht bislang jedoch der anthropozentrischen Weltsicht und bildet weder diese Verbundenheit noch den Eigenwert der Arten auf diesem Planeten ab. Der Mensch allein ist Träger von Rechten und kann diese als ,,natürliche Person” vor Gericht geltend machen.

Auch Unternehmen, sogenannte ,,juristische Personen”, können durch ihre Vertreter eigene Ansprüche einklagen. Damit sind auch ökonomische Interessen geschützt.

Die Natur hingegen hat (noch)keine Eigenrechte.

Hier setzt die weltweite Bewegung für die Rechte der Natur an. Sie fordert,der Natur eigene Rechte zu geben und diese in der Verfassung zu verankern.Als erstes Land der WeIt nahmEcuador die Rechte der Natur in die Verfassung auf. Auf dieser Grundlage entschied das ecuadorianische Verfassungsgericht im Dezember 2021 in einem umfassenden Urteil, dass im Naturschutzgebiet Los Cedros kein Bergbau oder andere ‘ Extraktion stattfinden darf. In zahlreichen Ländern,auch in Europa, werden derzeit Anträge in die Parlamente eingebracht,mit dem Ziel, der Natur subjektive Rechte einzuräumen. In Bayern wurde das erste Volksbegehren gestartet (www.DubistdieEr.de). Die vorgeschlagene Grundgesetzänderung würde die bisherige Schieflage, zugunsten menschlicher, ökonomischer Interessen, korrigieren. Sie würde außerdem dazu führen, dass die Menschen ihre Beziehung zur Natur überdenken und neu zu verstehen versuchen. Daher stellt die Diskussion über die Rechte der Natur auch eine Chance dar, eine gefährdende Sichtweisen aufzubrechen.

Karina Czupor ist seit 2020 Mitglied im Netzwerk Rechte der Natur www.rechte-der-natur.de

Die Gedanken Jens Kerstens sind anregend und geradezu aufregend. Ihre Lektüre ist bestens zu empfehlen.

Eine Rezension des Buches “Das ökologische Grundgesetz” von Dr. jur. Peter C. Mohr Hamburg

Das Werk steht in einer ständig wachsenden Reihe von Gedanken und Empfehlungen zur Bereicherung und Novellierungen des Grundgesetzes um den Schutz der Natur, um die Ökologie, Artensterben, Klimawandel, Vermüllung der Erde. Diese weitgehend unbestrittenen Tatsachen bedrohen das Leben von Menschen, Tieren und Pflanzen. Sie sind Zeichen der Übernutzung der Erde bis zur Selbstzerstörung.

Andere Staaten als die Bundesrepublik haben auf diese Entwicklung bereits und seit längerem reagiert. Ecuador hat als erstes Land in seiner Verfassung eigene subjektive Rechte der Natur anerkannt. In Indien und Neuseeland sind Flüssen eigene Rechte bestätigt und anerkannt worden. So auch in einer Vielzahl anderer Länder. Als erstes Land hat Spanien einer Lagune, dem Mare Menor, eigene Rechte zuerkannt, nachdem alle in Europa schon geltenden Bestimmungen zum Schutz der Natur wie FFH oder Vogel RL die Lagune nicht vor den Schäden von Landwirtschaft und Tourismus geschützt hatten. Dafür sind besondere gesetzliche Grundlagen geschaffen worden, die letztendlich jede Bürgerin und jeden Bürger berechtigen ein eigenes Recht der Lagune gegen Eingriffe geltend zu machen. Die Lagune fordert die Achtung ihrer eigenen Lebensrechte ein, vertreten durch Bürgerinnen oder Bürger.

Die Art der Menschen ist ein „Erfolgsmodell“. Ihre Zahl wächst seit 300 000 Jahren unaufhörlich. Damit auch die Übernutzung und der Verbrauch dessen, was der Mensch an Natur, an Wasser, Luft, Tieren und Pflanzen und den Schätzen der Erde wie Kohle, Öl oder Erzen für sich in Anspruch nimmt.

Das Verlangen des Menschen, seine Ansprüche an die Natur und deren Verbrauch sind nahezu unbegrenzt.

Gegen diese für alles Leben auf der Erde höchst bedrohliche und gefährliche Entwicklung kennt und schützt das Grundgesetz nur im Randbereich des Art. 20a GG. Der Gesetzgeber hat 1994, also 55 Jahre nachdem das Grundgesetz in Kraft getreten ist, das Staatsziel „Umweltschutz“ in das Grundgesetz eingeführt und im Jahre 2002 um den Tierschutz ergänzt. Art. 20a GG wendet sich nur an den Staat. Schon vor 1994 und auch danach hat der Gesetzgeber eine nahezu unendliche Zahl von Gesetzen dazu erlassen. Artensterben, Klimawandel, und die Vermüllung der Erde werden indes nicht gestoppt, nicht einmal gebremst. Die große Mehrzahl dieser Bestimmungen schützt die Nutzung der Umweltgüter und ihren Verbrauch für und durch den Menschen, indes nicht dessen Mitwelt [Klaus Michael Meyer-Abich]. Der Mensch schädigt und gefährdet damit nicht nur seine Mitwelt sondern auch das Überleben seiner Art.

Die Antwort von Jens Kersten hierauf ist  ein umfassender und – soweit ersichtlich – in dieser Reichweite erster Vorschlag, das Grundgesetz insgesamt und  entscheidend zu „ökologisieren“. Der Mensch wird auf ein ökologisches Allgemeinwohl verpflichtet. Um dieses ökologische Verantwortungsprinzip zu sichern, schlägt Kersten ein ökologisches Grundgesetz vor. Die Präambel und die Art. 1-20a GG werden wesentlich novelliert. Diese Regelungen werden jeweils um den Schutze der Natur ergänzt. Die Natur erhält eigene subjektive Grundrechte, soweit sie ihrem Wesen nach auf die Natur anwendbar sind. Darüber hinaus schlägt Kersten vor, die Ökologie als Staatsprinzip zu verankern.

Neben dem demokratischen, rechtsstaatlichen, sozial republikanischen und föderalen Prinzip soll das gleichermaßen wesentliche Staatsprinzip Ökologie gelten und Art. 20 GG dementsprechend erweitert werden. Dies erfordert weitere Neuerungen des Grundgesetzes, insbesondere auch um das ökologische Staatsprinzip in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung praktisch zu verfolgen.

In der Aufsehen erregenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zum Klimaschutz sieht Kersten einen sehr begrüßenswerten Fortschritt – indes nicht die Problembewältigung insgesamt. Eine auf Einzelfällen in der Vergangenheit beruhende Rechtsprechung sei nicht der verfassungsgerechte Weg, um den Schutz der Natur zu sichern, insbesondere auch deshalb, weil das BVerfG immer wieder darauf hinweist, dass Art. 20a GG zwar ein Verfassungsprinzip ist aber keine subjektiven Rechte gewährt.

Nicht nur Menschen haben eigene Rechte sondern auch juristische Personen insbesondere dem Kapital (gemäß Art 19 Abs. 3 G) erkennt das Grundgesetz eigene subjektive Rechte zu. Deshalb können im System des Grundgesetzes auch der Natur eigene Rechte zuerkannt oder bestätigt werden.

Die eigenen subjektiven Rechte der Natur werden nach Jens Kersten- solange die Natur nicht mit dem Menschen spricht- von allen Staatsbürgern wahrgenommen. Eine Beeinträchtigung eigener subjektiver Rechte im Sinne des § 42 VwGO ist keine Voraussetzung für die Waffengleichheit der Natur.

Kerstens Vorschläge werden die juristische Auseinandersetzung um die weiterhin gebotene Abwägung zwischen den Interessen des Menschen und dem Schutz der Natur nicht beenden sondern wesentlich beleben. Der Weg ist auch das Ziel.

Die Gedanken Jens Kerstens sind anregend und geradezu aufregend. Ihre Lektüre ist bestens zu empfehlen.

Was würde sich, was müsste sich ändern? Jens Kersten unterbreitet konkrete Vorschläge, die er als “Entwurf” zum Grundgesetz bezeichnet.

Art. 2 GG E Abs. 1

Mit der Anerkennung eines ökologischen Wohles der Allgemeinheit, vgl. Art. 2 GG des Entwurfes wird das Recht auf eine freie Entfaltung der Persönlichkeit zukünftig nicht nur durch die bisherige verfassungsmäßige Ordnung begrenzt, sondern auch durch das ökologische Wohl der Allgemeinheit. Dieses wird ein Rechtsinstitut und als solches im Rahmen der Verfassung begrenzt.

Art. 2 GG E Abs. 2 S. 1

Das Recht auf Leben. Körperliche Unversehrtheit wird ergänzt um das Recht auf eine intakte Umwelt und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen; das erweitert den Vorschlag von Ferdinand von Schirach in Jeder Mensch, „Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben“ deshalb erheblich, weil nach dem Entwurf Kersten die Natur als ökologische Person Rechte hat.

Art. 14 GG E Abs. 2

Eigentum und sein Gebrauch sind insbesondere dem sozialen und ökologischem Wohle verpflichtet.

Eine Einschränkung des Art. 14 Abs. 2 GG vermeidet Kersten mit der Einführung des Wortes „insbesonders“.

Art. 19 GG-E Abs. 3

Die Grundrechte gelten, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind – auch für ökologische Personen.

Hier nimmt Kersten die Bestimmung der Grundrechte für inländische Personen auf, die ebenfalls nur insoweit gelten als sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Die entscheidende Aufgabe zukünftiger Gesetzgebung und Rechtsprechung wird es sein, den Maßstab dafür zu finden.

Nach Jens Kerstens Entwurf wird also keine ins einzelne gehende Regelung der eigenen subjektiven Rechte der Natur vorgeschlagen. Kersten empfiehlt ein ökologisches Gesetzbuch, in dem differenzierte Bestimmungen die subjektiven Rechte der Natur regeln.

Damit nimmt Kersten keine Stellung zu Fragen wie z. B.

Welche Tiere haben ein Lebens- und Freiheitsrecht?

Welche Tiere soll der Mensch essen dürfen?

Welche Bauvorhaben haben Vorrang vor der Inanspruchnahme von Natur?

Welche „Schätze“ der Erde dürfen genutzt werden?

Das wird eine zukünftige Aufgabe, die Kersten abschließend als groß und reizvoll beschreibt, also in der Erkenntnis ihrer wesentlichen Bedeutung für die Gesellschaft und Dauer der Diskussion um deren Umsetzung.

Die Realisierung einer Grundgesetzänderung folgt vor allem einem: der Entwicklung der Gesellschaft. Es bleibt auch hier: die Einführung eigener Rechte der Natur ins Grundgesetz wird erfolgen, offen bleibt wann.

Jens Kersten: Das ökologische Grundgesetz, eschienen bei C.H. Beck, München 2022, 241 Seiten, 34,95 Euro

Über den Autor: Dr. jur. Peter C. Mohr hat im Laufe seiner beruflichen Tätigkeit hat Peter C. Mohr das Umweltrecht zu seinem besonderen Schwerpunkt gemacht. 2022 erhielt er vom NABU-Bundesverband die Lina-Hähnle-Medaille. Dr. Peter Mohr ist Mitglied im Netzwerk Rechte der Natur und hat an den Vorschlägen des Netzwerkes für eine Grundgesetzreform mitgearbeitet. ER plädiert dafür, dass die Rechte der Natur in eine Grundgesetzreform münden.

Buchempfehlung: Das ökologische Grundgesetz von Jens Kersten

von Helmut Scheel, 2. Vorsitzender der ÖDP Deutschland

Warum ein ökologisches Grundgesetz?

Was erwartet man, wenn man ein Buch kauft mit dem Titel „Das ökologische Grundgesetz“? Man rechnet mit Gesetzestexten und der Beantwortung von Fragen. Die erste Frage lautet: Warum ein „ökologisches Grundgesetz“? Die beantwortet Prof. Dr. Jens Kersten gründlich. In seinen Vorüberlegungen benennt er eines der zentralen Probleme unserer Zeit: Die Verfassung der Natur. „Artensterben, Globalvermüllung und Klimakatastrophe führen uns alltäglich vor Augen: Wir brauchen eine ökologische Transformation unserer Gesellschaft.“ Weiter arbeitet er heraus, weshalb das Anthropozän seinen Namen erhalten hat und deshalb die zentralen Probleme unseres Planeten entstanden sind. Selbst die Aufnahme des Umweltschutzes als Staatsziel in Art.20a des Grundgesetztes hat bisher keine wesentliche Verbesserung für unsere Natur gebracht.

Die Welt lässt sich nicht durch Gerichtsbeschlüsse ändern

Für Kersten war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom März 2021 der erste Lichtblick für einen sich wandelnden Blick der Gerichte auf die Bedeutung dieses Artikels im Grundgesetz. Allerdings ließe sich die Welt nicht durch Gerichtsbeschlüsse retten, sondern man müsste grundsätzlich und damit grundrechtlich die Natur auch juristisch anders betrachten und ihr eine andere Stellung im Grundgesetz einräumen, damit die Probleme und Herausforderungen von heute und der Zukunft angegangen werden können.

Gleichstellung der Natur

Die zentrale Änderung des Grundgesetzes muss aus seiner Sicht die Gleichstellung der Natur sein und damit meint er „die gesamte Tier- und Pflanzenwelt, also Böden, Landschaften, Luft, Klima und Wasser“. Er fordert die Einführung des Status einer „ökologischen Person“ um eine Gleichstellung zu juristischen Personen wie Firmen, Vereine, Stiftungen etc. zu erreichen. Derzeit, so die Ausführungen von Kersten, könne ein Mensch nur dann gegen die Umweltzerstörung oder deren Beschädigung klagen, wenn er selbst oder eine Organisation einen Schaden erlitten hätte. Das passt dazu, dass zum Beispiel Tiere juristisch als Sache, sprich als Objekt betrachtet werden. Wir bräuchten aber den Status eines Subjekts für die Natur, damit auf Augenhöhe juristisch gehandelt und verhandelt werden könne. Derzeit befindet sich die Natur immer nur in der Verteidigungsrolle, wenn Konflikte mit Konzernen verhandelt werden. Erst wenn die Natur zu einem Rechtssubjekt erhoben ist, kann diese von sich aus – vertreten durch Personen, wie bei einer Firma oder einem Verein – selbst Klage einreichen.

Die Grundrechte sollten auch für ökologische und inländische juristische Personen gelten

Der Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften an der Ludwig-Maximilian Universität in München startet seine sehr gründliche Durcharbeitung und Änderungsvorstellungen des Grundgesetzes gleich mit der Präambel: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und dem Menschen und für die Natur, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volkkraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“ Für ihn ist wichtig, bereits in der Präambel die Natur mit aufzuführen, da die Präambel eine Strahlkraft für das gesamte Grundgesetz hat.  In der Folge werden von ihm in vielen Artikeln des Grundgesetzes kleinere Änderungen, meist nur in Form des Einfügens eines ökologischen Begriffes, vorgeschlagen. Allerdings stellt der Artikel 19 des Grundgesetzes einen wesentlichen Artikel im Umbau auf ein ökologisches Grundgesetz dar. Dort soll es in Zukunft heißen: Art.19 GG (3)“Die Grundrechte gelten auch für ökologische und inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind.“ Mit dieser Ergänzung erlangt die Natur des Status einer juristischen Person. Damit wird sie anderen juristischen Personen ähnlich gestellt. Damit kann die Natur – vertreten durch Personen – ihre Rechte anders wahrnehmen.

Die Durchleuchtung des Grundgesetzes auf seine Schwächen in Bezug auf die Natur setzt er gründlich fort und lässt auch die Bedeutung der Parlamente und Regierungsmitglieder bis hin zum Bundespräsidenten nicht aus. So würde nach seiner Vorstellung der Minister für Natur sogar ein Widerspruchsrecht bekommen, wenn ein anderes Gesetz zu sehr negativ in die Ökologie eingreifen würde.

Defizite in Sachen Natur- und Umweltschutz

In Summe ist dieses Buch ein ökologischer Ritt durch unser Grundgesetz und zeigt auf, an wie vielen Stellen Defizite in Sachen Natur- und Umweltschutz vorhanden sind. Deutlich wird dabei, wie schlecht die Natur und die ökologischen Themen derzeit in unserem Grundgesetz gestellt sind. Wir brauchen für die Natur einen grundgesetzlichen Status auf Augenhöhe mit all jenen durch das Grundgesetz definierten Personen, damit die Natur vor Gericht Chancengleichheit erhält. Erst dann, so mein Fazit aus dem Buch, wird sich der Umgang, das Bewusstsein und die Beziehung zu unserer Natur, auch juristisch, ändern.

IPBES: Ökonomisierung der Natur fördert die globale Biodiversitätskrise

Im Juli hat der IPBES – das Gremium, das den UN-Prozess zur Rettung der Biodiversität begleitet, einen bemerkenswerten Bericht herausgegeben. Der Bericht analysiert wie weltweit der Wert der Natur beschrieben und erhoben wird. Und er untersucht, welche Bewertungsverfahren geeignet sind, die Biodiversitätskrise zu entschärfen und den Frieden mit der Natur herzustellen.

Das Ergebnis wurde mit folgender Pressemitteilung veröffentlicht:

Die Art und Weise, wie die Natur bei politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen bewertet wird, ist sowohl ein wichtiger Treiber der globalen Biodiversitätskrise als auch eine wichtige Gelegenheit, sie anzugehen, so eine vierjährige methodische Bewertung von 82 Spitzenwissenschaftlern und Experten aus allen Regionen der Welt.

Der am Samstag von Vertretern der 139 Mitgliedstaaten der Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES) verabschiedete Assessment Report on the Diverse Values and Valuation of Nature stellt fest, dass es einen dominanten globalen Fokus auf kurzfristige Gewinne und Wirtschaftswachstum gibt, wobei die Berücksichtigung mehrerer Werte der Natur bei politischen Entscheidungen oft ausgeschlossen wird.

Wirtschaftliche und politische Entscheidungen haben überwiegend bestimmte Werte der Natur in den Vordergrund gestellt, insbesondere marktwirtschaftliche Instrumentalwerte der Natur, wie sie mit intensiv produzierten Lebensmitteln verbunden sind. Obwohl diese Marktwerte in der Politik oft privilegiert sind, spiegeln sie nicht angemessen wider, wie sich Veränderungen in der Natur auf die Lebensqualität der Menschen auswirken. Darüber hinaus übersieht die Politik die vielen nicht-marktwirtschaftlichen Werte, die mit den Beiträgen der Natur für die Menschen verbunden sind, wie Klimaregulierung und kulturelle Identität.

“Mit mehr als 50 Bewertungsmethoden und -ansätzen mangelt es nicht an Wegen und Werkzeugen, um die Werte der Natur sichtbar zu machen”, sagt Prof. Unai Pascual (Spanien/Schweiz), der das Assessment gemeinsam mit Prof. Patricia Balvanera (Mexiko), Prof. Mike Christie (UK) und Dr. Brigitte Baptiste (Kolumbien) leitete. “Nur 2% der mehr als 1.000 untersuchten Studien konsultieren Stakeholder zu Bewertungsergebnissen und nur 1% der Studien involvierten Stakeholder in jeden Schritt des Prozesses der Bewertung der Natur. Was knapp ist, ist der Einsatz von Bewertungsmethoden, um Machtasymmetrien zwischen den Interessengruppen anzugehen und die vielfältigen Werte der Natur transparent in die Politikgestaltung einzubetten.”

Tief interdisziplinär und basierend auf einer umfassenden Überprüfung durch Experten aus den Sozial-, Wirtschafts- und Geisteswissenschaften stützt sich das Values Assessment auf mehr als 13.000 Referenzen – darunter wissenschaftliche Arbeiten und Informationsquellen aus indigenem und lokalem Wissen. Es baut auch direkt auf dem IPBES Global Assessment 2019 auf, in dem die Rolle des Wirtschaftswachstums als Haupttreiber für den Verlust der Natur identifiziert wurde, wobei 1 Million Pflanzen- und Tierarten jetzt vom Aussterben bedroht sind.

Um politischen Entscheidungsträgern zu helfen, die sehr unterschiedliche Art und Weise, wie Menschen die Natur begreifen und schätzen, besser zu verstehen, bietet der Bericht eine neuartige und umfassende Typologie der Werte der Natur. Die Typologie zeigt, wie verschiedene Weltanschauungen und Wissenssysteme die Art und Weise beeinflussen, wie Menschen mit der Natur interagieren und sie wertschätzen.

Um diese Typologie für die Entscheidungsfindung nutzbar zu machen, stellen die Autoren vier allgemeine Perspektiven vor.

Diese sind: Leben von, mit, in und als Natur.

Das Leben von der Natur betont die Fähigkeit der Natur, Ressourcen für die Erhaltung von Lebensgrundlagen, Bedürfnissen und Bedürfnissen der Menschen wie Nahrung und materiellen Gütern bereitzustellen.

Das Leben mit der Natur konzentriert sich auf das Leben, das “anders als der Mensch” ist, wie das intrinsische Recht der Fische in einem Fluss, unabhängig von menschlichen Bedürfnissen zu gedeihen.

Leben in der Natur bezieht sich auf die Bedeutung der Natur als Schauplatz für das Orts- und Identitätsgefühl der Menschen.

So zu leben, wie die Natur zu leben, sieht die natürliche Welt als einen physischen, mentalen und spirituellen Teil von sich selbst.

Der Bericht stellt fest, dass die Anzahl der Studien, die die Natur schätzen, in den letzten vier Jahrzehnten durchschnittlich um mehr als 10% pro Jahr gestiegen ist. Der Schwerpunkt der jüngsten (2010-2020) Bewertungsstudien lag auf der Verbesserung des Zustands der Natur (65% der überprüften Bewertungsstudien) und der Verbesserung der Lebensqualität der Menschen (31%), wobei sich nur 4% auf die Verbesserung von Fragen der sozialen Gerechtigkeit konzentrierten. 74% der Bewertungsstudien konzentrierten sich auf instrumentelle Werte, 20% auf intrinsische Werte und nur 6% auf relationale Werte.

“Das Werte-Assessment bietet Entscheidungsträgern konkrete Werkzeuge und Methoden, um die Werte, die Einzelpersonen und Gemeinschaften über die Natur haben, besser zu verstehen”, sagte Prof. Balvanera. “Zum Beispiel werden fünf iterative Schritte hervorgehoben, um die Bewertung so zu gestalten, dass sie den Bedürfnissen verschiedener Entscheidungskontexte entspricht. Der Bericht enthält auch Leitlinien zur Verbesserung der Bewertungsqualität unter Berücksichtigung von Relevanz, Robustheit und Ressourcenanforderungen verschiedener Bewertungsmethoden.”

“Verschiedene Arten von Werten können mit unterschiedlichen Bewertungsmethoden und -indikatoren gemessen werden. Zum Beispiel kann ein Entwicklungsprojekt zu wirtschaftlichen Vorteilen und Arbeitsplätzen führen, für die instrumentelle Werte der Natur bewertet werden können, aber es kann auch zum Verlust von Arten führen, die mit den inneren Werten der Natur verbunden sind, und zur Zerstörung von Kulturerbestätten, die für die kulturelle Identität wichtig sind, wodurch die Beziehungswerte der Natur beeinträchtigt werden. Der Bericht bietet Leitlinien für die Kombination dieser sehr unterschiedlichen Werte.”

“Die Bewertung ist ein expliziter und beabsichtigter Prozess”, sagte Prof. Christie. “Die Art und Qualität der Informationen, die Bewertungsstudien liefern können, hängt weitgehend davon ab, wie, warum und von wem die Bewertung entworfen und angewendet wird. Dies beeinflusst, wessen und welche Werte der Natur in Entscheidungen erkannt würden und wie gerecht die Vorteile und Lasten dieser Entscheidungen verteilt würden.”

“Die Anerkennung und Achtung der Weltanschauungen, Werte und des traditionellen Wissens indigener Völker und lokaler Gemeinschaften ermöglicht eine integrativere Politik, was sich auch in besseren Ergebnissen für Mensch und Natur niederschlägt”, sagte Dr. Baptiste. “Auch die Anerkennung der Rolle der Frau bei der Verwaltung der Natur und die Überwindung von Machtasymmetrien, die häufig mit dem Geschlechterstatus zusammenhängen, kann die Einbeziehung der Vielfalt der Werte in Entscheidungen über die Natur fördern.”

Der Bericht stellt fest, dass es eine Reihe von tief verwurzelten Werten gibt, die mit Nachhaltigkeit in Einklang gebracht werden können, wobei Prinzipien wie Einheit, Verantwortung, Verantwortung und Gerechtigkeit sowohl gegenüber anderen Menschen als auch gegenüber der Natur betont werden. “Die Verlagerung der Entscheidungsfindung in Richtung der vielfältigen Werte der Natur ist ein wirklich wichtiger Teil des systemweiten transformativen Wandels, der erforderlich ist, um die aktuelle globale Biodiversitätskrise anzugehen”, sagte Dr. Balvanera. “Dazu gehört es, ‘Entwicklung’ und ‘gute Lebensqualität’ neu zu definieren und die vielfältigen Beziehungen der Menschen zueinander und zur natürlichen Welt anzuerkennen.”

Die Autoren identifizieren vier wertezentrierte “Hebelpunkte”, die dazu beitragen können, die Bedingungen für den transformativen Wandel zu schaffen, der für eine nachhaltigere und gerechtere Zukunft notwendig ist:

  • Anerkennung der vielfältigen Werte der Natur
  • Einbettung der Bewertung in die Entscheidungsfindung
  • Reform von Richtlinien und Vorschriften, um die Werte der Natur zu verinnerlichen
  • Verschiebung der zugrunde liegenden gesellschaftlichen Normen und Ziele, um sie an den globalen Nachhaltigkeits- und Gerechtigkeitszielen auszurichten

“Unsere Analyse zeigt, dass verschiedene Wege dazu beitragen können, eine gerechte und nachhaltige Zukunft zu erreichen. Der Bericht widmet den zukünftigen Pfaden im Zusammenhang mit “grüner Wirtschaft”, “Degrowth”, “Earth Stewardship” und “Naturschutz” besondere Aufmerksamkeit. Obwohl jeder Weg von unterschiedlichen Werten getragen wird, teilen sie Prinzipien, die auf Nachhaltigkeit ausgerichtet sind “, fügte Prof. Pascual hinzu. “Wege, die sich aus unterschiedlichen Weltanschauungen und Wissenssystemen ergeben, zum Beispiel solche, die mit gutem Leben und anderen Philosophien des guten Lebens verbunden sind, können ebenfalls zu Nachhaltigkeit führen.”

Zu den anderen Instrumenten, die der Bericht bietet, um die Berücksichtigung einer größeren Vielfalt der Werte der Natur bei der Entscheidungsfindung zu stärken, gehören: eine Untersuchung der Einstiegspunkte für die Bewertung in allen Teilen des Politikzyklus; sechs miteinander verknüpfte, werteorientierte Leitlinien zur Förderung von Nachhaltigkeitspfaden; eine Bewertung des Potenzials verschiedener umweltpolitischer Instrumente zur Unterstützung eines transformativen Wandels hin zu nachhaltigeren und gerechteren Zukünften durch die Darstellung unterschiedlicher Werte und eine detaillierte Darstellung der erforderlichen Fähigkeiten von Entscheidungsträgern, um die Berücksichtigung und Einbettung der vielfältigen Werte der Natur in Entscheidungen zu fördern.

“Die biologische Vielfalt geht verloren und die Beiträge der Natur zu den Menschen werden jetzt schneller abgebaut als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in der Geschichte der Menschheit”, sagte Ana María Hernández Salgar, Vorsitzende von IPBES. “Dies liegt vor allem daran, dass unsere derzeitige Herangehensweise an politische und wirtschaftliche Entscheidungen die Vielfalt der Werte der Natur nicht ausreichend berücksichtigt. Die IPBES-Wertebewertung wird zu einem äußerst wichtigen Zeitpunkt veröffentlicht – kurz vor der erwarteten Einigung der Vertragsparteien des Übereinkommens über die biologische Vielfalt im Laufe dieses Jahres über einen neuen globalen Rahmen für die biologische Vielfalt für das nächste Jahrzehnt. Die Informationen, Analysen und Werkzeuge, die das Werte-Assessment bietet, leisten einen unschätzbaren Beitrag zu diesem Prozess, zur Erreichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung und zur Verlagerung aller Entscheidungen in Richtung besserer, wertezentrierter Ergebnisse für die Menschen und den Rest der Natur.”

Zu wessen Wohl?

Das Tierwohl-Label verdient seinen Namen nicht und fördert den Hunger in der Welt.

Christine Ax, M.A.

Das Tierwohl-Label, das von Bundeslandwirtschaftsminister Özdemir für die Schweinehaltung angekündigt wurde, wird von Tierschützern und den Verbraucherschutzverbänden scharf kritisiert.

Verbraucherschützer sind enttäuscht

Die Verbraucherzentrale Bundesverband stellt fest, dass nur die Haltungsformen 3 und 4 überhaupt eine Verbesserung darstellen und dass das Angebot von Fleisch aus solchen Haltungsformen im Handel bisher immer noch „gegen Null“ gehe.

Die Haltungsform 5 (Bio) sei außerdem nicht neu und im Biolandbau spiele das Tierwohl keineswegs immer eine bedeutende Rolle – auch wenn viele Tiere dort –  je nach Anbauverband – artgerechter gehalten werden als in konventionellen Betrieben.

Albert Schweitzer Stiftung “Leid der Tiere wird kaum reduziert”

Die Albert Schweizer Stiftung für Tierschutz zeigt sich schwer enttäuscht über den Vorschlag und fordert alle Tierfreunde auf, einen Appell für mehr echten Tierschutz zu unterschreiben.

Die Stiftung kommentiert das Vorhaben wie folgt: „ Wir begrüßen deshalb, dass die Bundesregierung 2022 eine verbindliche Kennzeichnung einführen will. Das vorgestellte Fünf-Stufen-Konzept lässt jedoch auf eine mangelhafte Umsetzung schließen, die das Leid der Tiere kaum reduzieren wird.  Das Landwirtschaftsministerium orientiert sich auf Drängen der »Initiative Tierwohl«, des Lebensmitteleinzelhandels und der Agrarlobby offenbar an dem problematischen »Haltungsform«-System der großen Supermarktketten. Doch die »Haltungsform«-Kennzeichnung unterscheidet sich in der zweiten Stufe kaum vom gesetzlichen Mindeststandard (Stufe 1) und erlaubt selbst in den höchsten Stufen Qualzucht, Amputationen und besonders tierquälerische Schlachtmethoden. Klar ist: Das Label ist kein Tierschutzkennzeichen. Die Stufen »Stall« und »Stallhaltung Plus« haben außerdem nur einen geringen Aussagewert – dennoch plant die Regierung diese Bezeichnungen zu übernehmen. Transparenz sucht man hier vergeblich. Die zusätzliche Bio-Stufe blendet aus, dass der EU-Bio-Standard nur minimal mehr Tierschutz bedeutet. Das Stufen-Konzept geht vollkommen an den tatsächlichen Bedürfnissen der Tiere vorbei. So wird das Label der Bundesregierung mehr Schein als Sein.“

PETA: Tierschutz-Label ist Greenwashing und ermöglicht Qualzucht und Massentierhaltung

Auf der PETA Website ist daher zu lesen: „Wir von PETA Deutschland lehnen die Haltungskennzeichnung ab, da sie nichts am speziesistischen System der Tierausbeutung ändert. Statt den enormen Arbeitsaufwand in die Entwicklung eines vermeintlichen Tierwohllabels zu investieren, hätte die Bundesregierung die Energie in wirklichen Tierschutz einbringen müssen: Maßnahmen, um den Fleischkonsum drastisch zu verringern. Weniger leidende Tiere durch den schnellen Abbau von Tierbeständen.

Mit dem ab 2023 geplanten Tierwohllabel betreibt die Bundesregierung leider Greenwashing für Konsument:innen, um deren Gewissen zu beruhigen, statt einen realen Unterschied für Millionen von Tieren zu bewirken. Die Botschaft, einfach weiterhin so viel Fleisch zu essen wie bisher, ist aber fatal: Denn die Produktion von Fleisch, Milch und Eiern treibt die Klimakatastrophe mitsamt der Zerstörung unserer Ökosysteme und somit unserer Lebensgrundlage unaufhörlich voran.“

Lisa Kainz, Fachreferentin bei PETA Deutschland e. V. schreibt:  „Die Unterschiede zwischen den Stufen sind für die Tiere zudem so marginal, dass das Wort ‚Tierwohl‘ hier völlig fehl am Platz ist und einer Täuschung der Verbraucherinnen und Verbraucher gleichkommt. Unzählige Recherche-Veröffentlichungen nach der Einführung der Kennzeichnung von Frischeiern haben die furchtbaren Lebensbedingungen von sogenannten Legehennen in Deutschland – auch jenen aus dem Bio-Bereich – enthüllt und gezeigt, dass kein Tier von einem Label profitiert. Wer ernsthaft etwas gegen die Tierquälerei im Agrarsystem tun will, greift zu Produkten mit Vegan-Label.“

Quelle: PETA Deutschland e.V.

Landwirtschaft fordert immer noch “business as usual”

Alles in allem weist derzeit immer noch nichts darauf hin, dass die Landwirtschaft verstanden hat, in welchem Umfang sie die Klimakrise und die Biodiversitätskrise vorantreibt. Die jüngsten Versuche auch die wenigen Flächen, in denen Biodiversität heute schon Vorrang hat in die Getreideproduktion wieder mit einzubeziehen, beweisen, dass die Agrarlobby immer noch das Ziel „business as usual“  verfolgt.

Dies mit dem Verweis auf eine drohende Welternährungskrise und den Ukrainekrieg zu tun – kann man nur als zynisch bezeichnen.

Denn solange nur 20 % der Erträge, die in Deutschland erzeugt werden, überhaupt für die Ernährung von Menschen verwendet werden und die anderen 80 % in Biosprit verwandelt werden, als Futtermittel verwendet oder schlichtweg weggeworfen werden, ist ein solcher Vorschlag ein weiterer Anschlag auf die Lebenschancen künftiger Generationen.

Rechte der Natur machen einen Unterschied

Umso wichtiger ist es, dass die Eigenrechte der Natur realisiert werden und Grundrechte auch für Tiere gelten.

Dass 1,5 Quadratmeter Lebensraum in der Massentierhaltung von einem Schwein als wohltuend empfunden wird, ist ausgeschlossen. Massentierhaltung ist ein unethischer Machtmissbrauch des Menschen über diese intelligenten und empfindsamen Mit-Lebewesen, die unser ganzes Mitgefühl verdient haben.

Das Tierwohl-Label dient vor allem dem Wohl der Tierzucht-Industrie, der industriellen Landwirtschaft und des Handels und es verdient seinen Namen nicht.  Da es die klimazerstörende Massentierhaltung legitimiert ist es nicht nur eine Art staatlich befördertes Greenwashing sondern außerdem auch noch weit schlimmer als das: Diese Art von Fleischproduktion ist auch ein Todesurteil für eine wachsende Zahl von hungernden Menschen weltweit. Fleischproduktion tötet.

Bienen bekommen Bienenrechte, Flüsse erhalten Rechte für Flüsse

Dr. jur. Georg Winter

Heute ist Mother Earth Day, und wie in jedem Jahr wird die UNO über den Zustand der Erde beraten und darüber diskutieren, wie wir den selbstmörderischen Krieg der Menschheit gegen die Natur beenden können. Die Rechte der Natur werden dabei eine wichtige Rolle spielen und auch in diesem Jahr werden Menschen aus aller Welt über ihre Erfolge oder Niederlagen im Kampf für die Rechte der Natur berichten.

Der Planet Erde ist Mutter und Träger einer einzigen Gemeinschaft, deren Bestandteile durch wechselseitige, existenzsichernde Beziehungen miteinander verbunden sind. Kein Lebewesen ernährt sich von sich selbst. Jeder Bestandteil der Erdgemeinschaft ist unmittelbar oder mittelbar von anderen Mitgliedern der Gemeinschaft abhängig.

Obwohl der Mensch – gemessen an seiner Biomasse – nur ein kleiner Knotenpunkt im Netz des Lebens ist, hat er eine Sonderstellung, die ihn gefährlich macht. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das aus dieser grundlegenden natürlichen Ordnung ausbrechen kann und immer weiter ausbricht.  Wir müssen uns deshalb zur Regulierung des menschlichen Verhaltens und zum Schutz der Unversehrtheit der Erde eine neue Rechtsordnung geben, die anerkennt, dass der Mensch und alle weiteren Bestandteile der Natur gemeinsam wichtige Elemente der Erdgemeinschaft sind und dass der Mensch eine besondere Verantwortung dafür trägt, die Integrität dieser Lebensgemeinschaft zu schützen.

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