Plädoyer für die Rechte der Natur im Grundgesetz
von Karina Czupor – Vorstandsmitglied Netzwerk Rechte der Natur e.V.
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wurde auf den Trümmern des Zweiten Weltkrieges erschaffen. Es sollte die Lehren aus den Fehlern der Weimarer Republik, dem Dritten Reich und dem Zweiten Weltkrieg ziehen. Am 23. Mai 1949 trat das Grundgesetz in Kraft. Dieses Grundgesetz, dem eine Zerstörung unvorstellbaren Ausmaßes vorausgegangen war, hat sich in den folgenden Jahrzehnten als ein Erfolgsmodell erwiesen. Mit dazu beigetragen hat die Einsetzung eines Bundesverfassungsgerichtes, welches das Grundgesetz als Werteordnung für Gesellschaft und Politik auslegt und für die Bürger und Bürgerinnen lebendig hält.[1] Das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht wurden zum Vorbild der Verfassungen weiterer Länder. Und im Inland genießen das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht auch 75 Jahre nach seiner Entstehung hohes Ansehen in der Bevölkerung.
Deutschands BürgerInnen haben großes Vertrauen in das Grundgesetz
Eine aktuelle Studie des Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM) an der Technischen Universität Dresden bestätigt das große Vertrauen der Deutschen in das Grundgesetz.[2] 81% der Deutschen sind der Meinung, das Grundgesetz habe sich bewährt. Dieses Ergebnis ist ermutigend in einer Zeit, die durch äußere und innere Bedrohungen gekennzeichnet ist und kann als gemeinsamer Nenner einer zunehmend polarisierten Gesellschaft verstanden werden.
Die Studie ergibt weiterhin, dass den Deutschen das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die Staatszielbestimmung zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen sowie die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit besonders wichtig sind.
Das erst 1994 in Artikel 20a aufgenommene Ziel des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen wird von 95% der Befragten als wichtig oder sehr wichtig eingestuft und damit fast genauso hoch wie der Schutz der Menschenwürde (97% der Befragten).
Nur 29 % denken, dass der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen gut umgesetzt wird – aber 95 % halten ihn für wichtig oder sehr wichtig
Bei der Frage nach der Umsetzung der Normen des Grundgesetzes zeigt sich jedoch, dass nur 29% der Befragten der Meinung sind, dass der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen gut oder eher gut umgesetzt ist. Dies ist die höchste gemessene Diskrepanz zwischen der beigemessenen Wichtigkeit und der tatsächlichen Umsetzung einer Verfassungsnorm!
Natur und Umwelt werden von den Befragten im Grundgesetz als immens wichtig eingestuft; der tatsächlich erreichte Schutz wird jedoch als völlig unzureichend erkannt.
Die Anpassung des Grundgesetzes kann nur durch eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat erfolgen. Und dennoch ist das Grundgesetz in den folgenden Jahrzehnten nach seiner Entstehung über 60mal geändert worden.[3] Das Grundgesetz ist somit kein heiliger Gral, der nicht verändert werden darf – abgesehen von den sogenannten Ewigkeitsgesetzen -, sondern kann sich an veränderte gesellschaftliche Entwicklungen anpassen und diese mit formen. Diese grundsätzliche Möglichkeit, das Grundgesetz als die akzeptierte rechtliche Basis unseres Zusammenlebens weiterzuentwickeln und an die veränderten Lebensbedingungen anzupassen, macht Hoffnung.
Deutschland hat viel Gutes erfahren – aber die Widersprüche und Risiken wachsen schnell
Seit der Entstehung des Grundgesetzes hat sich vieles an den Lebensbedingungen zum Guten und vieles zum Schlechten entwickelt. Deutschland lebte inmitten Europas fast achtzig Jahre in Frieden. Sein wirtschaftlicher Aufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg, die friedliche Wiedervereinigung und eine stabile Demokratie haben zu dieser Entwicklung beigetragen. Dagegen stehen die wachsende soziale Ungleichheit, eine Auseinanderentwickung von Einkommen und Lebenschancen und damit verbundene Spaltungen der Gesellschaft sowie eine nicht mehr aufzuhaltende Klimakatastrophe und die Zerstörung der Natur.
Von all diesen negativen Entwicklungen ist die Klima-/und Naturkatastrophe die größte Ungleichmacherin. Sie wird überproportional vom Lebensstil der Reichen und sehr Reichen verursacht, die Auswirkungen erfahren jedoch Alle, wobei die Wohlhabenden wiederum mehr Möglichkeiten haben, sich den extremen Auswirkungen beispielsweise der Klimakatastrophe weitgehend zu entziehen. Doch das Aussterben der Mitgeschöpfe, wie Vögel, Amphibien und Insekten betrifft alle.
Die Natur ist unter das Räderwerk des Kapitalismus geraten.
Zur Zeit des Wirtschaftswunders machte man sich noch keine Gedanken um die Natur. Natur war eben einfach da und wurde als Ressource für den Aufschwung benutzt. Doch schon bald wurden erste Stimmen laut, die auf die Auswirkungen der ungebremsten Ausbeutung hinwiesen (z.B. Bericht des Club of Rome; Rachel Carson „Der stumme Frühling“). Parallel hierzu entwickelte sich die soziale Marktwirtschaft in Deutschland hin zu einem Kapitalismus, der heute alle Bereiche der Gesellschaft erfasst hat, die Natur zerstört, eine immense Kluft zwischen Arm und Reich laufend weiter vertieft und das Gemeinwohl zugunsten von Egoismen von Unternehmen und Privatpersonen aufzugeben scheint.
Dies alles war bei Gründung des Grundgesetzes nicht absehbar, aber..
es stellt sich die Frage, welche Katastrophe heute eintreten muss, um die notwendigen Anpassungen zu erwirken.
Der Klimawandel hat sich bereits zu einer Klimakatastrophe ausgewachsen, die sich schneller entwickelt, als prognostiziert. Die durch unser Tun ausgestorbenen Tiere und Pflanzen, die über Millionen von Jahren zur Erde gehörten, sind durch nichts mehr zurückzubringen und reißen tiefe Löcher in das Geflecht des Lebens. Ökosysteme, wie Meere, Flüsse, Wälder brechen zusammen.
„Der letzte Zweck der anderen Geschöpfe sind nicht wir“, sagt Papst Franziskus in Laudato Si.
Viele Menschen aus allen Bevölkerungsschichten haben sich eine lebendige Beziehung zur Natur bewahrt. Die Zerstörung der Natur wird von ihnen mit Trauer und Zorn, Verzweiflung und Resignation zur Kenntnis genommen. Die Natur wird als ein Gegenüber erlebt, mit der wir in einer Beziehung stehen, und nicht als bloße Ressource für den Kapitalismus. Diese Verbundenheit kommt auch in der o.g. Studie zum Ausdruck, wenn 95% die repräsentativ ausgesuchten Teilnehmer aus allen sozialen Schichten dem Schutz der Natur fast dieselbe hohe Bedeutung wie der Menschenwürde zusprechen!
Das 1949 verabschiedete Grundgesetz kann als anthropozentrisch beschrieben werden.
Es nimmt seiner Zeit gemäß und als Reaktion auf Diktatur und Krieg den Menschen in den Mittelpunkt, definiert seine Freiheitsrechte in einem Staat und benennt eindrücklich in Artikel 1 die Menschenwürde als unveräußerlichen Bestandteil des Menschseins.
Die Natur kommt zunächst gar nicht vor.
Erst 1994 wird die Natur indirekt im Sinne einer Lebensgrundlage für die Menschen benannt und der Staat zu ihrem Schutz verpflichtet. Es ist dieser Artikel 20a, der sich als zahnloser Tiger erwiesen hat. Hieran haben auch die Umweltschutzgesetze nichts Grundsätzliches ändern können. Denn sie müssen – ausgehend vom Grundgesetz – an den grundlegenden Gedanken anknüpfen, dass die Natur ein Objekt ist, über das zwar verhandelt werden kann, welches aber keinen Wert in sich selbst besitzt. In der gesamten deutschen Rechtsprechung hat die Natur keinen Eigenwert; der Mensch alleine ist ein Subjekt mit Eigenwert und scheint außerhalb der Natur zu stehen.
Es ist dieser Artikel 20a, der sich als zahnloser Tiger erwiesen hat. Hieran haben auch die Umweltschutzgesetze nichts Grundsätzliches ändern können.
75 Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes ist diese Sichtweise als überholt zu betrachten. Ein tiefgreifender Wandel der Wertevorstellungen beginnt sich zu vollziehen, in der der Mensch als ein Teil der Natur zu betrachten ist. Dies ist auch auf einen Wandel in den Naturwissenschaften zurückzuführen. Neuere Forschungen offenbaren immer mehr die Verbindungen zwischen Pflanzen, Tieren, Menschen, Boden, Luft und Wasser. Kohlenstoff zirkuliert durch alle Sphären der Erde; alle lebenden Organismen sind über den Atem miteinander verbunden. Forschungen zu Wahrnehmung und Bewusstsein von Tieren und Pflanzen bringen Erstaunliches zutage; die Naturwissenschaft beginnt das große Ganze in den Blick zu nehmen. Auch in den Geisteswissenschaften vollzieht sich eine Wende hin zu Beziehung und Resonanz aufeinander. Der Mensch steht nicht isoliert außerhalb der Natur – er ist aufs Engste mit ihr verbunden.
Die Verbindung zur Natur ist Teil des kulturellen europäischen Erbes, das nie ganz verloren gegangen ist. Franz von Assisi, Hildegart von Bingen, Goethe und die deutsche Romantik sind nur einige Namen und Epochen, die zu nennen wären. Heutige Philosophinnen und Philosophen denken das Verhältnis Mensch und lebendige Natur weiter (z.B. Martha Nussbaum, Andreas Weber).
Der Wunsch nach einem anderen Verhältnis Mensch und Natur wird somit immer wieder geäußert, schlägt sich jedoch nicht im Grundgesetz nieder. Dieser Wunsch wird auch nicht dadurch geschmälert, dass es für die einzelnen Menschen in ihren jeweiligen Lebensumständen schwer ist, ein Leben ohne Zerstörung der Natur zu leben. Der Einzelne kann bei der Wahrnehmung seiner Freiheits- und Wahlrechte die Natur nur sehr begrenzt schützen – zu dicht ist das Geflecht und die Logik zerstörerischer Handlungsoptionen. Das macht es umso dringender im Grundgesetz, der höchsten Wertematrix unseres Zusammenlebens, dem Wunsch nach einem Miteinander von Mensch und Natur Ausdruck zu verleihen und einen verbindlichen Rechtsrahmen zu schaffen!
Die Rechte der Natur im Grundgesetz sind die konsequente Weiterführung dieser Erkenntnisse. Mit den Rechten der Natur wird erhält sie ein Eigenrecht auf leben und das Recht sich ihrer Art gemäß entwickeln zu können. Die Natur wird somit als Subjekt, als Gegenüber rechtlich anerkannt, und kann in gerichtlichen Auseinandersetzungen von Menschen vertreten werden.
Das Interesse der Natur zu leben, kann endlich auf Augenhöhe gegen die wirtschaftlichen Interessen z.B. eines Unternehmens abgewogen werden müssen. Dies ist derzeit nicht der Fall, denn die Natur ist ein Objekt, irgendein Ding, über das verhandelt wird.
Gleichzeitig werden sich mit den Rechten der Natur unsere Wertvorstellungen weiterentwickeln.
Der bereits begonnene Wandel in der Wahrnehmung der Natur bekommt neue Impulse und kann eines Tages zu einem insgesamt friedlicheren Miteinander von Mensch und Natur führen.
Viele indigene Gemeinschaften auf der ganzen Welt haben über Jahrhunderte hinweg ein Wertesystem gelebt, das von Gegenseitigkeit zwischen Menschen und Natur geprägt war. Die weltweite Bewegung für die Rechte der Natur hat sich von diesem Miteinander inspirieren lassen und dies mit dem europäischen Rechtssystem verbunden. In Europa wurden der Salzwasserlagune Mar Menor in Spanien Eigenrechte zugesprochen.
Die Rechte der Natur knüpfen an das kulturelle Erbe Deutschlands an. Sie entsprechen dem neuesten Stand der Geistes- und Naturwissenschaften und dem Wunsch der Bevölkerung nach der Durchsetzung des Schutzes der Natur. Sie sind mir der Wahrnehmung vieler Menschen in Resonanz, die in der Natur ein lebendiges Gegenüber und Miteinander finden.
Manchmal wird argumentiert, man möge doch erst einmal die bestehenden Umweltgesetze durchsetzen und das offensichtliche Vollzugsdefizit beheben.[4] Dies verkennt jedoch, dass die Rechte der Natur das Eintreten von Naturzerstörungen von vornherein verhindern kann, wohingegen unsere Naturschutzgesetz bestenfalls mit wenig wirksamen Ausgleichsmaßnahmen die Naturzerstörung fördern.
Das beste Beispiel für den Fortschritt, der mit den Rechten der Natur einherghet, ist das Urteil zu Los Cedros in Ecuador.
Im Grundgesetz klafft eine große Lücke in Bezug auf die Natur. Es geht nach wie vor davon aus, dass wir losgelöst von der Natur in einem unbelebten Raum leben, so als wären wir nicht Teil der Lebensprozesse unserer Mitwelt. Ja, im Grundgesetz ist man sogar noch einen Schritt weitergegangen, indem neben den Menschen als natürliche Personen das Konstrukt der juristischen Person verankert wurde, mit der z.B. Kapitalgesellschaften Eigenrechte erhalten und diese vor Gericht einklagen lassen können. Unternehmen haben eigene Rechte und die lebendige Natur nicht?
Die Rechte der Natur führen das Projekt der Moderne weiter.[5]
In der Vergangenheit wurden in einem Prozess der gesellschaftlichen Weiterentwicklung immer mehr rechtlosen Randgruppen eigene Rechte zugesprochen (Sklaven, Frauen, Kinder). Dieser Prozess wird in einem weiteren gesellschaftlichen Schritt fortgeführt und auf die Mitgeschöpfe und die Natur übertragen.
Mit Hochachtung sehen wir heute auf die Mütter des Grundgesetzes (Elisabeth Selbert, Frieda Nadig, Helene Weber und Helene Wessel), die gegen Abwertungen und heftigen Widerstand die Aufnahme des Artikel 3 Abs. 2 „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ in das bundesdeutsche Grundgesetz durchsetzten. Diese vier Frauen gehörten neben 61 Männern dem Parlamentarischen Rat an. Und mit noch mehr Hochachtung nehmen wir aus heutiger Sicht zur Kenntnis, dass sie drei verschiedenen Parteien (CDU, SPD, Zentrum) angehörten und über Parteigrenzen und interne Widerstände ihrer Parteien hinweg die Weichen für eine gleichberechtigte Gesellschaft legten.
Es ist zu hoffen, dass sich in naher Zukunft viele Menschen finden, die über Parteigrenzen, soziale Hekrunft, Religionszugehörigkeiten und Altersunterschieden hinweg, für die Anerkennung der Rechte der Natur in das Grundgesetz eintreten! Es wird vielleicht unsere letzte Chance sein.
Karina Czupor
Netzwerk Rechte der Natur e.V.
www.Rechte-der-Natur.de
[1] Dieter Grimm „In guter Verfassung? Alt aber nicht veraltet – das Grundgesetz im 75. Jahr“ Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de, 23.2.2024
[2] https://forum-midem.de/wp-content/uploads/2024/05/MIDEM_Grundgesetzstudie.pdf
[3] Wikipedia
[4] https://www.europarl.europa.eu/thinktank/en/document/IPOL_STU(2021)689328
[5] Dieser Gedanke wird z.B. auch von Frank Adloff vertreten. Siehe Diskussion im Netzwerk Rechte der Natur am 29.4.2024 , https://www.rechte-der-natur.de/de/