Buchempfehlung: Die Befreiung der Natur – Zum Verhältnis von Natur und Freiheit bei Herbert Marcuse

Man kann aus vielen Gründen zu dem Ergebnis kommen, dass wir unsere Beziehung zur Natur neu denken müssen. Die 117 Seite starke Veröffentlichung “Die Befreiung der Natur – Zum Verhältnis von Natur und Freiheit bei Herbert Marcuse“ liefert dafür spannende Denkanstöße. Sein Autor, Ulrich Rutschig, Chemiker und Philosophie-Professor im Ruhestand (Universität Oldenburg) ist ein ausgewiesener Kenner der Kritischen Theorie.

Anfang der 70er Jahre schrieb Marcuse den Aufsatz „Natur und Revolution“. Es ist ein Plädoyer für die „Befreiung der Natur“ durch die Arbeiterklasse. Marcuse war davon überzeugt, dass die Befreiung des Menschen von den Zumutungen des Kapitalismus nur Hand in Hand mit der Befreiung der Natur einhergehen könne. Denn es liege in der vernünftigen Natur des Menschen, die Natur vor sich selbst zu schützen.

Dass Marcuse sich mit dieser Frage befasste, ist keineswegs selbstverständlich. Schließlich war in den 70er Jahren die Notwendigkeit des Naturschutzes nur bei wenigen „Linken“ ein Thema. Orthodoxe Marxisten hielten viel zu lange die Zerstörung der Natur für eine Art historischen “Nebenwiderspruch“, der sich auflöst, wenn der Hauptwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit Geschichte sein würde. Dieser Ansicht ist Marcuse explizit nicht. [1]

Interessant und aktuell an dieser Veröffentlichung ist, dass Rutschig Marcuses Kritik an Kants Naturverhältnis ausführlich darstellt. Denn viele Verfassungsrechtler berufen sich noch heute auf Kant, um die Vormachtstellung des Menschen über die Natur zu legitimieren und die Forderung nach den Rechten der Natur abzuwehren.

Was wollte Kant?

Für Kant ist Natur ein Objekt und steht daher unbegrenzt und kostenfrei als Mittel für die menschliche Zwecke (Wirtschaft, Selbstverwirklichung) zu Verfügung. Diese Freiheit, die Kant dem Menschen zuschreibt, wird durch die Moralität begrenzt, die dem Menschen eigen ist. Womit die menschliche Fähigkeit gemeint ist, sich selbst Gesetze zu geben und dem moralischen Imperativ zu gehorchen.

Dass nur der vernunftbegabte Mensch Würde besitzt, war bis ins 19. Jahrhundert so selbstverständlich, dass nicht nur Tiere, Pflanzen und die unbelebte Natur als Objekt behandelt werden durften, sondern auch alle Menschen, denen man ihr Menschsein absprach.  Indigenen Völkern, die die falsche (nicht europäische) Nasen- und Schädelform hatten, sprach man lange ihr vollwertiges Menschsein ab. Woraus sich auch ergab, dass sie keine der weißen Rasse vergleichbare Vernunft besitzen konnten, dass andere für sie entscheiden mussten und dass man sie als würdelose Objekt behandelt durfte: In Zoos zeigen, einsperren, sterilisieren, umerziehen, enteignen, entrechten etc.

Unter ihnen auch Japans Ureinwohner, die bis heute darum kämpfen, dass die Gebeine ihrer Vorfahren nicht mehr in Museen aufbewahrt werden, sondern an sie zurückgegeben werden, damit sie an den heiligen Stätten ihrer Vorfahren beerdigt werden können.[2][3]

Marcuse setzt mit seiner Kritik an diesem kantschen Würdebegriff an. Kant geht davon aus, dass Natur und Freiheit einander ausschließen. Da die Natur keinen freien Wille habe, könne sie kein Subjekt sein.

Bedeutet dies auch, dass die Natur keine Würde hat?

Kant verknüpft seinen Würdebegriff mit den Begriffen „Wert an sich“ und Preis[4]. Was einen Preis hat, das kann ersetzt werden, hat keinen Selbstzweck und ist kein Eigenwert. Umgekehrt formuliert könnte man auch sagen: Nur was nicht austauschbar ist, besitzt eine Würde.

Rutschig arbeitet in seinem Buch detailliert heraus, wie Herbert Marcuse Kants Annahmen und Schlussfolgerungen kritisiert und seine Gegenthese, dass die Natur und alle Lebewesen einen “Zweck an sich selbst” “sind, begründet.  

Marcuse anerkannte, dass Moralität in der Autonomie der Vernunft begründet ist und dass Moralität vernünftige Subjekte erfordert. Aber der Mensch – so Marcuse – ist kein reines Vernunftwesen, er ist auch ein Sinnenwesen, ein „Animal (Tier) rationale“ – das auf den Stoffwechsel mit der Natur angewiesen ist. Er ist sich seines Selbst bewusst gewordene Natur. Folglich gebühre nicht nur seinem „Vernunftwesen-sein“  sondern auch seinem „Naturwesen-sein“  Achtung. Zumal er nicht unabhängig von anderen Lebewesen und Arten leben kann, sondern diese seine Voraussetzung waren und sind, seine conditio sine qua non.

Marcuse hält es für moralisch geboten, dass die vernünftige Natur des Menschen die Natur als „Zweck an sich selbst” würdigt, ohne die der Mensch nicht sein kann. Denn die Natur ist seine Voraussetzung, der hinreichende Grund für seine Existenz. Sie ist nicht austauschbar und hat keine materielles äquivalent. Der Mensch hat die Freiheit, dies zu ignorieren. Doch vernünftig ist das nicht.  

Marcuse schrieb diesen Aufsatz Anfang der 70er Jahre, und er konnte folglich nicht wissen, was wir heute wissen.

Seine romantische Vorstellung vom revolutionären Subjekt Arbeiterklasse, das den Kapitalismus abschafft und die Natur befreit, wurde bisher von der Geschichte bisher nicht begründet. Und auch seine Hoffnung, dass es der Mensch die Natur befreit, ist bis heute nur ein frommer Wunsch geblieben.

Die Geschwindigkeit und die Eingriffstiefe mit, der der vernunftbegabte Mensch seit den 70er Jahren die Natur zerstört, lässt eine Befreiung der Natur kommt, wenn diese Übung doch noch eines Tages gelingt, für viele Tiere und Pflanzen zu spät. [5]

Wahrscheinlicher erscheint es inzwischen, dass sich die Natur von der Menschheit (ganz oder teilweise) befreit – es sei denn, der Mensch kommt ihm mit seinen Vernichtungswaffen zuvor, oder ein Virus erledigt das Geschäft. Marcuse hat wohl die realen Machtverhältnisse zwischen Menschen und Natur ebenso falsch eingeschätzt, wie die Machtverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit. 

Das ändert allerdings nichts daran, dass es sich lohnt, sich mit Marcuses Kritik an Kant auseinander zu setzen. Denn nur wenige Philosophen haben dies aus dieser Perspektive getan.


[1] Zumal die Hoffnung auf die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt enttäuscht wurde. Ist doch die „Arbeiterklasse“ sowohl in den “altindustriellen Ländern” als in den jungen Industrieländern in der internationalen Konsumentenklasse aufgegangen, die ihr Recht auf einen westlichen Lebensstil und die damit verbundene Ausbeutung der Natur ebenso vernunftfrei wie hartnäckig verteidigt.

[2] Was unvoreingenommene Beobachter heute vielleicht als einen Hinweis darauf deuten könnten, dass es mit der Vernunft diese weißen Rasse und derer, die diese verherrlichen nicht sehr weit her sein kann, oder dass es sich um eine ausgesprochen unmenschliche Vernunft handelt, die ihren eigenen Ansprüchen an Menschlichkeit und Vernunft nicht genügt. Denn Kant war kein Unmensch. Für Kant war Vernunft untrennbar mit dem moralischen Imperativ verbunden. Streng genommen könnte man aus dieser logischen Verknüpfung darauf schließen, dass alle Lebewesen, die den moralischen Imperativ nicht verstanden haben und nicht danach leben, keine Menschen sind. Aber was sind sie dann?

[3]Uwe Makino: „Der Schädelforscher errechnet einen Schädelindex aus der Relation von Länge und Breite, man schließt von der Schädelkapazität auf die Hirnentwicklung und damit auf die Kulturfähigkeit und später auf die Position im Evolutionsprozess. Auch der Gesichtswinkel wurde vermessen und ausgedeutet. Grundsätzlich sind Rassenbegriffe, die von permanenten Qualitäten ihrer Träger ausgehen, mehr als rein somatische Beschreibungen, wie wir eben bei Linné gesehen haben: Explizit fließen kulturelle, moralische und ästhetische Wertungen mit ein. Beginnend mit dem Aufklärer Voltaire (1694-1778), der den „Neger“ nicht als Ebenbild Gottes akzeptieren konnte, über die US-amerikanischen Verfechter der Sklaverei als gott- und naturgewollt bis hin zu den Rassisten unserer Tage kann man die Linie ziehen, die da behauptet: „Neger“ haben ein kleines Hirn, ihr Gesichtswinkel ist dem Affen näher als dem Idealbild des antiken Griechen, sie sind zu höherer Kulturleistung nicht fähig und eben „Wilde“, d.h. auch moralisch nicht auf der Höhe einer „Herrenrasse“. Quelle: Uwe Makino, Wem gehören die Ainu-Gebeine? Wozu wurden Schädel- und Gebeinsammlungen angelegt? Ein Blick in die Forschungs- und Ideologiegeschichte; In: OAG Notizen, Tokyo Juni 2018, S. 10 – 37.

[4] Rutschig: „In der dritten Antinomie erläutert Kant den Widerspruch von Kausalität nach Gesetzen der Natur und Kausalität aus Freiheit. Nach Kant hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden. Was hingegen über allen Preis erhaben ist, und mithin kein Äquivalent haben kann, das hat Würde.“

[5] Seit 1970 verschwanden rund 60 Prozent aller Säugetiere, Vögel, Fische und Reptilien von der Erde. Quelle: WWF, „Living Planet Report“ WWF.

Buchempfehlung: Die Befreiung der Natur, Zum Verhältnis von Natur und Freiheit bei Herbert Marcuse, Ulrich Ruschig, ISBN  9783 89438 7419

IPBES: Ökonomisierung der Natur fördert die globale Biodiversitätskrise

Im Juli hat der IPBES – das Gremium, das den UN-Prozess zur Rettung der Biodiversität begleitet, einen bemerkenswerten Bericht herausgegeben. Der Bericht analysiert wie weltweit der Wert der Natur beschrieben und erhoben wird. Und er untersucht, welche Bewertungsverfahren geeignet sind, die Biodiversitätskrise zu entschärfen und den Frieden mit der Natur herzustellen.

Das Ergebnis wurde mit folgender Pressemitteilung veröffentlicht:

Die Art und Weise, wie die Natur bei politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen bewertet wird, ist sowohl ein wichtiger Treiber der globalen Biodiversitätskrise als auch eine wichtige Gelegenheit, sie anzugehen, so eine vierjährige methodische Bewertung von 82 Spitzenwissenschaftlern und Experten aus allen Regionen der Welt.

Der am Samstag von Vertretern der 139 Mitgliedstaaten der Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES) verabschiedete Assessment Report on the Diverse Values and Valuation of Nature stellt fest, dass es einen dominanten globalen Fokus auf kurzfristige Gewinne und Wirtschaftswachstum gibt, wobei die Berücksichtigung mehrerer Werte der Natur bei politischen Entscheidungen oft ausgeschlossen wird.

Wirtschaftliche und politische Entscheidungen haben überwiegend bestimmte Werte der Natur in den Vordergrund gestellt, insbesondere marktwirtschaftliche Instrumentalwerte der Natur, wie sie mit intensiv produzierten Lebensmitteln verbunden sind. Obwohl diese Marktwerte in der Politik oft privilegiert sind, spiegeln sie nicht angemessen wider, wie sich Veränderungen in der Natur auf die Lebensqualität der Menschen auswirken. Darüber hinaus übersieht die Politik die vielen nicht-marktwirtschaftlichen Werte, die mit den Beiträgen der Natur für die Menschen verbunden sind, wie Klimaregulierung und kulturelle Identität.

“Mit mehr als 50 Bewertungsmethoden und -ansätzen mangelt es nicht an Wegen und Werkzeugen, um die Werte der Natur sichtbar zu machen”, sagt Prof. Unai Pascual (Spanien/Schweiz), der das Assessment gemeinsam mit Prof. Patricia Balvanera (Mexiko), Prof. Mike Christie (UK) und Dr. Brigitte Baptiste (Kolumbien) leitete. “Nur 2% der mehr als 1.000 untersuchten Studien konsultieren Stakeholder zu Bewertungsergebnissen und nur 1% der Studien involvierten Stakeholder in jeden Schritt des Prozesses der Bewertung der Natur. Was knapp ist, ist der Einsatz von Bewertungsmethoden, um Machtasymmetrien zwischen den Interessengruppen anzugehen und die vielfältigen Werte der Natur transparent in die Politikgestaltung einzubetten.”

Tief interdisziplinär und basierend auf einer umfassenden Überprüfung durch Experten aus den Sozial-, Wirtschafts- und Geisteswissenschaften stützt sich das Values Assessment auf mehr als 13.000 Referenzen – darunter wissenschaftliche Arbeiten und Informationsquellen aus indigenem und lokalem Wissen. Es baut auch direkt auf dem IPBES Global Assessment 2019 auf, in dem die Rolle des Wirtschaftswachstums als Haupttreiber für den Verlust der Natur identifiziert wurde, wobei 1 Million Pflanzen- und Tierarten jetzt vom Aussterben bedroht sind.

Um politischen Entscheidungsträgern zu helfen, die sehr unterschiedliche Art und Weise, wie Menschen die Natur begreifen und schätzen, besser zu verstehen, bietet der Bericht eine neuartige und umfassende Typologie der Werte der Natur. Die Typologie zeigt, wie verschiedene Weltanschauungen und Wissenssysteme die Art und Weise beeinflussen, wie Menschen mit der Natur interagieren und sie wertschätzen.

Um diese Typologie für die Entscheidungsfindung nutzbar zu machen, stellen die Autoren vier allgemeine Perspektiven vor.

Diese sind: Leben von, mit, in und als Natur.

Das Leben von der Natur betont die Fähigkeit der Natur, Ressourcen für die Erhaltung von Lebensgrundlagen, Bedürfnissen und Bedürfnissen der Menschen wie Nahrung und materiellen Gütern bereitzustellen.

Das Leben mit der Natur konzentriert sich auf das Leben, das “anders als der Mensch” ist, wie das intrinsische Recht der Fische in einem Fluss, unabhängig von menschlichen Bedürfnissen zu gedeihen.

Leben in der Natur bezieht sich auf die Bedeutung der Natur als Schauplatz für das Orts- und Identitätsgefühl der Menschen.

So zu leben, wie die Natur zu leben, sieht die natürliche Welt als einen physischen, mentalen und spirituellen Teil von sich selbst.

Der Bericht stellt fest, dass die Anzahl der Studien, die die Natur schätzen, in den letzten vier Jahrzehnten durchschnittlich um mehr als 10% pro Jahr gestiegen ist. Der Schwerpunkt der jüngsten (2010-2020) Bewertungsstudien lag auf der Verbesserung des Zustands der Natur (65% der überprüften Bewertungsstudien) und der Verbesserung der Lebensqualität der Menschen (31%), wobei sich nur 4% auf die Verbesserung von Fragen der sozialen Gerechtigkeit konzentrierten. 74% der Bewertungsstudien konzentrierten sich auf instrumentelle Werte, 20% auf intrinsische Werte und nur 6% auf relationale Werte.

“Das Werte-Assessment bietet Entscheidungsträgern konkrete Werkzeuge und Methoden, um die Werte, die Einzelpersonen und Gemeinschaften über die Natur haben, besser zu verstehen”, sagte Prof. Balvanera. “Zum Beispiel werden fünf iterative Schritte hervorgehoben, um die Bewertung so zu gestalten, dass sie den Bedürfnissen verschiedener Entscheidungskontexte entspricht. Der Bericht enthält auch Leitlinien zur Verbesserung der Bewertungsqualität unter Berücksichtigung von Relevanz, Robustheit und Ressourcenanforderungen verschiedener Bewertungsmethoden.”

“Verschiedene Arten von Werten können mit unterschiedlichen Bewertungsmethoden und -indikatoren gemessen werden. Zum Beispiel kann ein Entwicklungsprojekt zu wirtschaftlichen Vorteilen und Arbeitsplätzen führen, für die instrumentelle Werte der Natur bewertet werden können, aber es kann auch zum Verlust von Arten führen, die mit den inneren Werten der Natur verbunden sind, und zur Zerstörung von Kulturerbestätten, die für die kulturelle Identität wichtig sind, wodurch die Beziehungswerte der Natur beeinträchtigt werden. Der Bericht bietet Leitlinien für die Kombination dieser sehr unterschiedlichen Werte.”

“Die Bewertung ist ein expliziter und beabsichtigter Prozess”, sagte Prof. Christie. “Die Art und Qualität der Informationen, die Bewertungsstudien liefern können, hängt weitgehend davon ab, wie, warum und von wem die Bewertung entworfen und angewendet wird. Dies beeinflusst, wessen und welche Werte der Natur in Entscheidungen erkannt würden und wie gerecht die Vorteile und Lasten dieser Entscheidungen verteilt würden.”

“Die Anerkennung und Achtung der Weltanschauungen, Werte und des traditionellen Wissens indigener Völker und lokaler Gemeinschaften ermöglicht eine integrativere Politik, was sich auch in besseren Ergebnissen für Mensch und Natur niederschlägt”, sagte Dr. Baptiste. “Auch die Anerkennung der Rolle der Frau bei der Verwaltung der Natur und die Überwindung von Machtasymmetrien, die häufig mit dem Geschlechterstatus zusammenhängen, kann die Einbeziehung der Vielfalt der Werte in Entscheidungen über die Natur fördern.”

Der Bericht stellt fest, dass es eine Reihe von tief verwurzelten Werten gibt, die mit Nachhaltigkeit in Einklang gebracht werden können, wobei Prinzipien wie Einheit, Verantwortung, Verantwortung und Gerechtigkeit sowohl gegenüber anderen Menschen als auch gegenüber der Natur betont werden. “Die Verlagerung der Entscheidungsfindung in Richtung der vielfältigen Werte der Natur ist ein wirklich wichtiger Teil des systemweiten transformativen Wandels, der erforderlich ist, um die aktuelle globale Biodiversitätskrise anzugehen”, sagte Dr. Balvanera. “Dazu gehört es, ‘Entwicklung’ und ‘gute Lebensqualität’ neu zu definieren und die vielfältigen Beziehungen der Menschen zueinander und zur natürlichen Welt anzuerkennen.”

Die Autoren identifizieren vier wertezentrierte “Hebelpunkte”, die dazu beitragen können, die Bedingungen für den transformativen Wandel zu schaffen, der für eine nachhaltigere und gerechtere Zukunft notwendig ist:

  • Anerkennung der vielfältigen Werte der Natur
  • Einbettung der Bewertung in die Entscheidungsfindung
  • Reform von Richtlinien und Vorschriften, um die Werte der Natur zu verinnerlichen
  • Verschiebung der zugrunde liegenden gesellschaftlichen Normen und Ziele, um sie an den globalen Nachhaltigkeits- und Gerechtigkeitszielen auszurichten

“Unsere Analyse zeigt, dass verschiedene Wege dazu beitragen können, eine gerechte und nachhaltige Zukunft zu erreichen. Der Bericht widmet den zukünftigen Pfaden im Zusammenhang mit “grüner Wirtschaft”, “Degrowth”, “Earth Stewardship” und “Naturschutz” besondere Aufmerksamkeit. Obwohl jeder Weg von unterschiedlichen Werten getragen wird, teilen sie Prinzipien, die auf Nachhaltigkeit ausgerichtet sind “, fügte Prof. Pascual hinzu. “Wege, die sich aus unterschiedlichen Weltanschauungen und Wissenssystemen ergeben, zum Beispiel solche, die mit gutem Leben und anderen Philosophien des guten Lebens verbunden sind, können ebenfalls zu Nachhaltigkeit führen.”

Zu den anderen Instrumenten, die der Bericht bietet, um die Berücksichtigung einer größeren Vielfalt der Werte der Natur bei der Entscheidungsfindung zu stärken, gehören: eine Untersuchung der Einstiegspunkte für die Bewertung in allen Teilen des Politikzyklus; sechs miteinander verknüpfte, werteorientierte Leitlinien zur Förderung von Nachhaltigkeitspfaden; eine Bewertung des Potenzials verschiedener umweltpolitischer Instrumente zur Unterstützung eines transformativen Wandels hin zu nachhaltigeren und gerechteren Zukünften durch die Darstellung unterschiedlicher Werte und eine detaillierte Darstellung der erforderlichen Fähigkeiten von Entscheidungsträgern, um die Berücksichtigung und Einbettung der vielfältigen Werte der Natur in Entscheidungen zu fördern.

“Die biologische Vielfalt geht verloren und die Beiträge der Natur zu den Menschen werden jetzt schneller abgebaut als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in der Geschichte der Menschheit”, sagte Ana María Hernández Salgar, Vorsitzende von IPBES. “Dies liegt vor allem daran, dass unsere derzeitige Herangehensweise an politische und wirtschaftliche Entscheidungen die Vielfalt der Werte der Natur nicht ausreichend berücksichtigt. Die IPBES-Wertebewertung wird zu einem äußerst wichtigen Zeitpunkt veröffentlicht – kurz vor der erwarteten Einigung der Vertragsparteien des Übereinkommens über die biologische Vielfalt im Laufe dieses Jahres über einen neuen globalen Rahmen für die biologische Vielfalt für das nächste Jahrzehnt. Die Informationen, Analysen und Werkzeuge, die das Werte-Assessment bietet, leisten einen unschätzbaren Beitrag zu diesem Prozess, zur Erreichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung und zur Verlagerung aller Entscheidungen in Richtung besserer, wertezentrierter Ergebnisse für die Menschen und den Rest der Natur.”

Zu wessen Wohl?

Das Tierwohl-Label verdient seinen Namen nicht und fördert den Hunger in der Welt.

Christine Ax, M.A.

Das Tierwohl-Label, das von Bundeslandwirtschaftsminister Özdemir für die Schweinehaltung angekündigt wurde, wird von Tierschützern und den Verbraucherschutzverbänden scharf kritisiert.

Verbraucherschützer sind enttäuscht

Die Verbraucherzentrale Bundesverband stellt fest, dass nur die Haltungsformen 3 und 4 überhaupt eine Verbesserung darstellen und dass das Angebot von Fleisch aus solchen Haltungsformen im Handel bisher immer noch „gegen Null“ gehe.

Die Haltungsform 5 (Bio) sei außerdem nicht neu und im Biolandbau spiele das Tierwohl keineswegs immer eine bedeutende Rolle – auch wenn viele Tiere dort –  je nach Anbauverband – artgerechter gehalten werden als in konventionellen Betrieben.

Albert Schweitzer Stiftung “Leid der Tiere wird kaum reduziert”

Die Albert Schweizer Stiftung für Tierschutz zeigt sich schwer enttäuscht über den Vorschlag und fordert alle Tierfreunde auf, einen Appell für mehr echten Tierschutz zu unterschreiben.

Die Stiftung kommentiert das Vorhaben wie folgt: „ Wir begrüßen deshalb, dass die Bundesregierung 2022 eine verbindliche Kennzeichnung einführen will. Das vorgestellte Fünf-Stufen-Konzept lässt jedoch auf eine mangelhafte Umsetzung schließen, die das Leid der Tiere kaum reduzieren wird.  Das Landwirtschaftsministerium orientiert sich auf Drängen der »Initiative Tierwohl«, des Lebensmitteleinzelhandels und der Agrarlobby offenbar an dem problematischen »Haltungsform«-System der großen Supermarktketten. Doch die »Haltungsform«-Kennzeichnung unterscheidet sich in der zweiten Stufe kaum vom gesetzlichen Mindeststandard (Stufe 1) und erlaubt selbst in den höchsten Stufen Qualzucht, Amputationen und besonders tierquälerische Schlachtmethoden. Klar ist: Das Label ist kein Tierschutzkennzeichen. Die Stufen »Stall« und »Stallhaltung Plus« haben außerdem nur einen geringen Aussagewert – dennoch plant die Regierung diese Bezeichnungen zu übernehmen. Transparenz sucht man hier vergeblich. Die zusätzliche Bio-Stufe blendet aus, dass der EU-Bio-Standard nur minimal mehr Tierschutz bedeutet. Das Stufen-Konzept geht vollkommen an den tatsächlichen Bedürfnissen der Tiere vorbei. So wird das Label der Bundesregierung mehr Schein als Sein.“

PETA: Tierschutz-Label ist Greenwashing und ermöglicht Qualzucht und Massentierhaltung

Auf der PETA Website ist daher zu lesen: „Wir von PETA Deutschland lehnen die Haltungskennzeichnung ab, da sie nichts am speziesistischen System der Tierausbeutung ändert. Statt den enormen Arbeitsaufwand in die Entwicklung eines vermeintlichen Tierwohllabels zu investieren, hätte die Bundesregierung die Energie in wirklichen Tierschutz einbringen müssen: Maßnahmen, um den Fleischkonsum drastisch zu verringern. Weniger leidende Tiere durch den schnellen Abbau von Tierbeständen.

Mit dem ab 2023 geplanten Tierwohllabel betreibt die Bundesregierung leider Greenwashing für Konsument:innen, um deren Gewissen zu beruhigen, statt einen realen Unterschied für Millionen von Tieren zu bewirken. Die Botschaft, einfach weiterhin so viel Fleisch zu essen wie bisher, ist aber fatal: Denn die Produktion von Fleisch, Milch und Eiern treibt die Klimakatastrophe mitsamt der Zerstörung unserer Ökosysteme und somit unserer Lebensgrundlage unaufhörlich voran.“

Lisa Kainz, Fachreferentin bei PETA Deutschland e. V. schreibt:  „Die Unterschiede zwischen den Stufen sind für die Tiere zudem so marginal, dass das Wort ‚Tierwohl‘ hier völlig fehl am Platz ist und einer Täuschung der Verbraucherinnen und Verbraucher gleichkommt. Unzählige Recherche-Veröffentlichungen nach der Einführung der Kennzeichnung von Frischeiern haben die furchtbaren Lebensbedingungen von sogenannten Legehennen in Deutschland – auch jenen aus dem Bio-Bereich – enthüllt und gezeigt, dass kein Tier von einem Label profitiert. Wer ernsthaft etwas gegen die Tierquälerei im Agrarsystem tun will, greift zu Produkten mit Vegan-Label.“

Quelle: PETA Deutschland e.V.

Landwirtschaft fordert immer noch “business as usual”

Alles in allem weist derzeit immer noch nichts darauf hin, dass die Landwirtschaft verstanden hat, in welchem Umfang sie die Klimakrise und die Biodiversitätskrise vorantreibt. Die jüngsten Versuche auch die wenigen Flächen, in denen Biodiversität heute schon Vorrang hat in die Getreideproduktion wieder mit einzubeziehen, beweisen, dass die Agrarlobby immer noch das Ziel „business as usual“  verfolgt.

Dies mit dem Verweis auf eine drohende Welternährungskrise und den Ukrainekrieg zu tun – kann man nur als zynisch bezeichnen.

Denn solange nur 20 % der Erträge, die in Deutschland erzeugt werden, überhaupt für die Ernährung von Menschen verwendet werden und die anderen 80 % in Biosprit verwandelt werden, als Futtermittel verwendet oder schlichtweg weggeworfen werden, ist ein solcher Vorschlag ein weiterer Anschlag auf die Lebenschancen künftiger Generationen.

Rechte der Natur machen einen Unterschied

Umso wichtiger ist es, dass die Eigenrechte der Natur realisiert werden und Grundrechte auch für Tiere gelten.

Dass 1,5 Quadratmeter Lebensraum in der Massentierhaltung von einem Schwein als wohltuend empfunden wird, ist ausgeschlossen. Massentierhaltung ist ein unethischer Machtmissbrauch des Menschen über diese intelligenten und empfindsamen Mit-Lebewesen, die unser ganzes Mitgefühl verdient haben.

Das Tierwohl-Label dient vor allem dem Wohl der Tierzucht-Industrie, der industriellen Landwirtschaft und des Handels und es verdient seinen Namen nicht.  Da es die klimazerstörende Massentierhaltung legitimiert ist es nicht nur eine Art staatlich befördertes Greenwashing sondern außerdem auch noch weit schlimmer als das: Diese Art von Fleischproduktion ist auch ein Todesurteil für eine wachsende Zahl von hungernden Menschen weltweit. Fleischproduktion tötet.