von Prof. Dr. Klaus Bosselmann
Westliches Denken neigt noch immer dazu, den Menschen als von der Natur getrennt zu
begreifen. In der Nachfolge von Descartes, Kant und Hegel hat sich ein Freiheitsverständnis
entwickelt, das die Autonomie des Menschen betont, und zwar nicht nur gegenüber der
Gesellschaft, sondern auch gegenüber der Natur. Eine so verstandene Autonomie begünstigt
Entwicklungen, die Mitverantwortlichkeiten gegenüber „anderen“ als freiheitsbegrenzend
empfindet oder gar völlig ablehnt. Die damit einhergehenden gesellschaftlichen
Verwerfungen können durch die Sozialgebundenheit von Freiheit und Eigentum, zumindest
im Ansatz, aufgefangen werden. So wie es der soziale Rechtsstaat verspricht.
Verantwortlichkeiten gegenüber der Natur kennt das klassisch liberale Freiheitsverständnis
dagegen nicht. Was zu Zeiten Kants und Hegels noch hinnehmbar gewesen sein mag,
erscheint im Zeitalter der ökologischen Krise als ein gefährlicher Anachronismus. Wir wissen
heute, wie sehr unsere menschliche Existenz von der Erhaltung ökologischer Systeme abhängt
und damit verknüpft individuelles Leben, Gesundheit, Freiheit und Eigentum. Diese
Erkenntnis ist aber noch nicht in das gängige Verständnis der Grundrechte eingedrungen. Was
fehlt, ist eine Ökologiebindung von Freiheit und Eigentum in Erweiterung ihrer Sozialbindung.
Der Schritt zum sozial-ökologischen Rechtsstaat also.
Mit unseren bisherigen Gesetzen ist es nicht getan. Soweit sie sich auf ökologische Systeme
beziehen, bezwecken sie allein Umweltschutz zur Sicherung menschlicher
Nutzungsinteressen. Ein Existenzrecht der Natur wird geleugnet, das Recht zum Beispiel,
einfach in Ruhe gelassen zu werden. Natur bleibt das Andere und somit von grundrechtlich
geforderter Mitverantwortlichkeit ausgeschlossen. Eine solche Mitverantwortlichkeit lässt
sich nicht einfach damit begründen, dass wir die Natur „brauchen“. Natur ist Leben in all
seinen Formen und ökologischen Zusammenhängen und damit conditio sine qua non
menschlicher Freiheit. Ihre Nutzung lässt sich zwar ebenso als Ausdruck von Freiheit deuten
und selbst ihre Ausbeutung noch als Begleiterscheinung von Freiheitsausübung. Die Freiheit
selbst verschwindet aber, wenn Naturausbeutung zur Naturzerstörung und somit zur
Selbstvernichtung wird. Diese Gefahr besteht heute weltweit und vor allem für arme, junge
und noch nicht geborene Menschen.
Mit dieser Gefahr hat sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 24. März 2022 auseinandergesetzt (Beschl. v. 24.03.2021, Az. 1 BvR 2656/18 u.a.). Das Urteil weist in die Richtung einer Ökologiegebundenheit der Freiheitsrechte – wenn auch nur indirekt. Die Pflicht zur Verschärfung des Bundes-Klimaschutzgesetzes begründete das Gericht mit dem Hinweis darauf, dass die sonst zu erwartenden zusätzlichen Reduktionslasten (nach 2030) für zukünftige Generationen umfassende Freiheitseinbußen zur Folge hätten.
Entscheidend ist also das Zeitelement: je weiter der Klimawandel voranschreitet, desto
tiefgreifender die Folgen für die Ausübung von Freiheitsrechten. Um dieser Entwicklung
entgegenzutreten, ist nach der Aussage des BVerfG effektiver Klimaschutz als Voraussetzung
für die Sicherung von Freiheitsrechten zu verstehen.
Dies zeigt Weitsicht auf – und wird dennoch der ökologischen Realität nicht gerecht. Wir sind
nicht einfach von der Natur abhängig, sondern in ihre ökologischen Kreisläufe völlig
eingebunden.
Was wir ihnen antun, kommt unweigerlich auf uns zurück.
Es macht daher Sinn, die Natur als Grundbedingung unserer Existenz und Prosperität zu begreifen und somit auch als Grundlage kollektiver und individueller Freiheitsrechte. Genauso wie individuelle
Freiheitsausübung nur im Rahmen der gleichen Rechte der Mitmenschen möglich ist, kann sie
sich nur im Rahmen der Rechte der natürlichen Mitwelt vollziehen. Die Anerkennung der
Rechtssubjektivität der natürlichen Mitwelt ist somit Ausdruck eines Freiheitsbegriffes, der
die objektive bestehende ökologische Eingebundenheit des Menschen reflektiert.
Rechtspraktisch bedeutet dies, dass es fortan kein Recht auf Naturausbeutung mehr gibt,
sondern lediglich ein Recht auf ökologisch nachhaltige Nutzung.