Buchempfehlung: Die Befreiung der Natur – Zum Verhältnis von Natur und Freiheit bei Herbert Marcuse

Man kann aus vielen Gründen zu dem Ergebnis kommen, dass wir unsere Beziehung zur Natur neu denken müssen. Die 117 Seite starke Veröffentlichung “Die Befreiung der Natur – Zum Verhältnis von Natur und Freiheit bei Herbert Marcuse“ liefert dafür spannende Denkanstöße. Sein Autor, Ulrich Rutschig, Chemiker und Philosophie-Professor im Ruhestand (Universität Oldenburg) ist ein ausgewiesener Kenner der Kritischen Theorie.

Anfang der 70er Jahre schrieb Marcuse den Aufsatz „Natur und Revolution“. Es ist ein Plädoyer für die „Befreiung der Natur“ durch die Arbeiterklasse. Marcuse war davon überzeugt, dass die Befreiung des Menschen von den Zumutungen des Kapitalismus nur Hand in Hand mit der Befreiung der Natur einhergehen könne. Denn es liege in der vernünftigen Natur des Menschen, die Natur vor sich selbst zu schützen.

Dass Marcuse sich mit dieser Frage befasste, ist keineswegs selbstverständlich. Schließlich war in den 70er Jahren die Notwendigkeit des Naturschutzes nur bei wenigen „Linken“ ein Thema. Orthodoxe Marxisten hielten viel zu lange die Zerstörung der Natur für eine Art historischen “Nebenwiderspruch“, der sich auflöst, wenn der Hauptwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit Geschichte sein würde. Dieser Ansicht ist Marcuse explizit nicht. [1]

Interessant und aktuell an dieser Veröffentlichung ist, dass Rutschig Marcuses Kritik an Kants Naturverhältnis ausführlich darstellt. Denn viele Verfassungsrechtler berufen sich noch heute auf Kant, um die Vormachtstellung des Menschen über die Natur zu legitimieren und die Forderung nach den Rechten der Natur abzuwehren.

Was wollte Kant?

Für Kant ist Natur ein Objekt und steht daher unbegrenzt und kostenfrei als Mittel für die menschliche Zwecke (Wirtschaft, Selbstverwirklichung) zu Verfügung. Diese Freiheit, die Kant dem Menschen zuschreibt, wird durch die Moralität begrenzt, die dem Menschen eigen ist. Womit die menschliche Fähigkeit gemeint ist, sich selbst Gesetze zu geben und dem moralischen Imperativ zu gehorchen.

Dass nur der vernunftbegabte Mensch Würde besitzt, war bis ins 19. Jahrhundert so selbstverständlich, dass nicht nur Tiere, Pflanzen und die unbelebte Natur als Objekt behandelt werden durften, sondern auch alle Menschen, denen man ihr Menschsein absprach.  Indigenen Völkern, die die falsche (nicht europäische) Nasen- und Schädelform hatten, sprach man lange ihr vollwertiges Menschsein ab. Woraus sich auch ergab, dass sie keine der weißen Rasse vergleichbare Vernunft besitzen konnten, dass andere für sie entscheiden mussten und dass man sie als würdelose Objekt behandelt durfte: In Zoos zeigen, einsperren, sterilisieren, umerziehen, enteignen, entrechten etc.

Unter ihnen auch Japans Ureinwohner, die bis heute darum kämpfen, dass die Gebeine ihrer Vorfahren nicht mehr in Museen aufbewahrt werden, sondern an sie zurückgegeben werden, damit sie an den heiligen Stätten ihrer Vorfahren beerdigt werden können.[2][3]

Marcuse setzt mit seiner Kritik an diesem kantschen Würdebegriff an. Kant geht davon aus, dass Natur und Freiheit einander ausschließen. Da die Natur keinen freien Wille habe, könne sie kein Subjekt sein.

Bedeutet dies auch, dass die Natur keine Würde hat?

Kant verknüpft seinen Würdebegriff mit den Begriffen „Wert an sich“ und Preis[4]. Was einen Preis hat, das kann ersetzt werden, hat keinen Selbstzweck und ist kein Eigenwert. Umgekehrt formuliert könnte man auch sagen: Nur was nicht austauschbar ist, besitzt eine Würde.

Rutschig arbeitet in seinem Buch detailliert heraus, wie Herbert Marcuse Kants Annahmen und Schlussfolgerungen kritisiert und seine Gegenthese, dass die Natur und alle Lebewesen einen “Zweck an sich selbst” “sind, begründet.  

Marcuse anerkannte, dass Moralität in der Autonomie der Vernunft begründet ist und dass Moralität vernünftige Subjekte erfordert. Aber der Mensch – so Marcuse – ist kein reines Vernunftwesen, er ist auch ein Sinnenwesen, ein „Animal (Tier) rationale“ – das auf den Stoffwechsel mit der Natur angewiesen ist. Er ist sich seines Selbst bewusst gewordene Natur. Folglich gebühre nicht nur seinem „Vernunftwesen-sein“  sondern auch seinem „Naturwesen-sein“  Achtung. Zumal er nicht unabhängig von anderen Lebewesen und Arten leben kann, sondern diese seine Voraussetzung waren und sind, seine conditio sine qua non.

Marcuse hält es für moralisch geboten, dass die vernünftige Natur des Menschen die Natur als „Zweck an sich selbst” würdigt, ohne die der Mensch nicht sein kann. Denn die Natur ist seine Voraussetzung, der hinreichende Grund für seine Existenz. Sie ist nicht austauschbar und hat keine materielles äquivalent. Der Mensch hat die Freiheit, dies zu ignorieren. Doch vernünftig ist das nicht.  

Marcuse schrieb diesen Aufsatz Anfang der 70er Jahre, und er konnte folglich nicht wissen, was wir heute wissen.

Seine romantische Vorstellung vom revolutionären Subjekt Arbeiterklasse, das den Kapitalismus abschafft und die Natur befreit, wurde bisher von der Geschichte bisher nicht begründet. Und auch seine Hoffnung, dass es der Mensch die Natur befreit, ist bis heute nur ein frommer Wunsch geblieben.

Die Geschwindigkeit und die Eingriffstiefe mit, der der vernunftbegabte Mensch seit den 70er Jahren die Natur zerstört, lässt eine Befreiung der Natur kommt, wenn diese Übung doch noch eines Tages gelingt, für viele Tiere und Pflanzen zu spät. [5]

Wahrscheinlicher erscheint es inzwischen, dass sich die Natur von der Menschheit (ganz oder teilweise) befreit – es sei denn, der Mensch kommt ihm mit seinen Vernichtungswaffen zuvor, oder ein Virus erledigt das Geschäft. Marcuse hat wohl die realen Machtverhältnisse zwischen Menschen und Natur ebenso falsch eingeschätzt, wie die Machtverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit. 

Das ändert allerdings nichts daran, dass es sich lohnt, sich mit Marcuses Kritik an Kant auseinander zu setzen. Denn nur wenige Philosophen haben dies aus dieser Perspektive getan.


[1] Zumal die Hoffnung auf die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt enttäuscht wurde. Ist doch die „Arbeiterklasse“ sowohl in den “altindustriellen Ländern” als in den jungen Industrieländern in der internationalen Konsumentenklasse aufgegangen, die ihr Recht auf einen westlichen Lebensstil und die damit verbundene Ausbeutung der Natur ebenso vernunftfrei wie hartnäckig verteidigt.

[2] Was unvoreingenommene Beobachter heute vielleicht als einen Hinweis darauf deuten könnten, dass es mit der Vernunft diese weißen Rasse und derer, die diese verherrlichen nicht sehr weit her sein kann, oder dass es sich um eine ausgesprochen unmenschliche Vernunft handelt, die ihren eigenen Ansprüchen an Menschlichkeit und Vernunft nicht genügt. Denn Kant war kein Unmensch. Für Kant war Vernunft untrennbar mit dem moralischen Imperativ verbunden. Streng genommen könnte man aus dieser logischen Verknüpfung darauf schließen, dass alle Lebewesen, die den moralischen Imperativ nicht verstanden haben und nicht danach leben, keine Menschen sind. Aber was sind sie dann?

[3]Uwe Makino: „Der Schädelforscher errechnet einen Schädelindex aus der Relation von Länge und Breite, man schließt von der Schädelkapazität auf die Hirnentwicklung und damit auf die Kulturfähigkeit und später auf die Position im Evolutionsprozess. Auch der Gesichtswinkel wurde vermessen und ausgedeutet. Grundsätzlich sind Rassenbegriffe, die von permanenten Qualitäten ihrer Träger ausgehen, mehr als rein somatische Beschreibungen, wie wir eben bei Linné gesehen haben: Explizit fließen kulturelle, moralische und ästhetische Wertungen mit ein. Beginnend mit dem Aufklärer Voltaire (1694-1778), der den „Neger“ nicht als Ebenbild Gottes akzeptieren konnte, über die US-amerikanischen Verfechter der Sklaverei als gott- und naturgewollt bis hin zu den Rassisten unserer Tage kann man die Linie ziehen, die da behauptet: „Neger“ haben ein kleines Hirn, ihr Gesichtswinkel ist dem Affen näher als dem Idealbild des antiken Griechen, sie sind zu höherer Kulturleistung nicht fähig und eben „Wilde“, d.h. auch moralisch nicht auf der Höhe einer „Herrenrasse“. Quelle: Uwe Makino, Wem gehören die Ainu-Gebeine? Wozu wurden Schädel- und Gebeinsammlungen angelegt? Ein Blick in die Forschungs- und Ideologiegeschichte; In: OAG Notizen, Tokyo Juni 2018, S. 10 – 37.

[4] Rutschig: „In der dritten Antinomie erläutert Kant den Widerspruch von Kausalität nach Gesetzen der Natur und Kausalität aus Freiheit. Nach Kant hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden. Was hingegen über allen Preis erhaben ist, und mithin kein Äquivalent haben kann, das hat Würde.“

[5] Seit 1970 verschwanden rund 60 Prozent aller Säugetiere, Vögel, Fische und Reptilien von der Erde. Quelle: WWF, „Living Planet Report“ WWF.

Buchempfehlung: Die Befreiung der Natur, Zum Verhältnis von Natur und Freiheit bei Herbert Marcuse, Ulrich Ruschig, ISBN  9783 89438 7419

Autor

  • Christine Ax

    Christine Ax, ist Wissenschaftlerin und Autorin zahlreicher Bücher und Artikel, die sich mit Nachhaltigkeit beschäftigen und Lösungen aufzeigen, wie wir Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltig gestalten können.

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